Prof. Dr. Martin Avenarius
Rn 8
Ein im Zeitpunkt des Erbfalls Pflichtteilsberechtigter (§§ 2303, 1923 II) wird dann übergangen, wenn er in der angefochtenen Verfügung überhaupt vom Erblasser nicht erwähnt, also weder enterbt (Hambg FamRZ 90, 910) noch als Erbe eingesetzt noch mit einem Vermächtnis bedacht worden ist (BayObLG ZEV 94, 106; Karlsr ZEV 95, 454). Eine hinter dem gesetzlichen Erbteil (oder sogar dem Pflichtteil; Stuttg ZEV 22, 469 [OLG Stuttgart 27.07.2021 - 8 W 64/21]) zurückbleibende Zuwendung berechtigt hingegen nicht zur Anfechtung nach § 2079 (RGZ 50, 238; BayObLG ZEV 94, 106; aA MüKo/Leipold § 2079 Rz 6; Graf ZEV 94, 109 für Fälle, in denen die Zuwendung nicht im Hinblick auf die Stellung als Pflichtteilsberechtigter angeordnet worden ist), weil das Anfechtungsrecht nicht der Sicherung der wirtschaftlichen Interessen der Pflichtteilsberechtigten dient.
Rn 9
Ein Anfechtungsrecht besteht, wenn der Erblasser außerdem zur Zeit der Errichtung der Verfügung weder vom Vorhandensein dieses Pflichtteilsberechtigten noch von dessen Pflichtteilsberechtigung wusste, daher etwa einen Pflichtteilsberechtigten irrig für verstorben hielt oder über die die Pflichtteilsberechtigung vermittelnden Verwandtschaftsbeziehung zu einer Person irrte. Hat der Testator im notariellen Testament unzutreffend angegeben, er sei ›nicht verheiratet‹, dann genügt dies allein nicht zur Annahme eines Irrtums über das Bestehen einer Ehe (München NJW-RR 08, 1112 [OLG München 07.05.2008 - 31 Wx 12/08]).
Rn 10
Die Verfügung ist auch dann anfechtbar, wenn ein im Zeitpunkt des Erbfalls Pflichtteilsberechtigter erst nach der Errichtung der Verfügung hinzukommt, weil er später geboren oder, etwa durch Heirat mit dem Erblasser, Adoption oder Gesetzesänderung, pflichtteilsberechtigt wird, ebenso wenn ein Pflichtteilsverzicht später mit Rückwirkung angefochten wird (Otte ZEV 11, 233). Das gilt allerdings nicht, wenn der Pflichtteilsberechtigte bereits in einer Verfügung, die vor Eintritt der Pflichtteilsberechtigung errichtet wurde, bedacht worden ist (RGZ 148, 218; BayObLGZ 93, 389; aA MüKo/Leipold § 2079 Rz 6: dies gelte nicht, wenn diese Person nicht im Hinblick auf die zukünftige Pflichtteilsberechtigung, sondern unabhängig davon bedacht wurde). Auch ist die Anfechtung ausgeschlossen, wenn (va bei Ehegattentestamenten oder Erbverträgen) eine pflichtteilsberechtigende Beziehung zur Schaffung eines Anfechtungsrechts hergestellt werden soll (BGH FamRZ 70, 79, 82).
Rn 11
Eine Anfechtung scheidet jedoch aus, wenn der Erblasser die Verfügung auch dann getroffen hätte, wenn er im Zeitpunkt der Errichtung der Verfügung (BGH NJW 81, 1735 [BGH 13.05.1981 - IVa ZR 171/80]) von der Pflichtteilsberechtigung gewusst hätte (§ 2079 2). Die Kausalität zwischen der Unkenntnis der Pflichtteilsberechtigung und der Verfügung wird also, anders als in anderen Fällen des Motivirrtums oder der irrigen Zukunftserwartung (§ 2078 II), kraft Gesetzes widerleglich vermutet, so dass eine Beweislastumkehr eintritt (BayObLG NJW-RR 01, 725). Wer sich gegen die Anfechtbarkeit wendet, muss nachweisen, dass der Erblasser auch in Kenntnis des Pflichtteilsberechtigten nicht anders testiert hätte (KG ZErb 17, 257; Ddorf FamRZ 99, 1024). Entsprechend können Verfügungen auch teilweise wirksam bleiben (Schlesw ZEV 16, 263).
Rn 12
Die Vermutung ist etwa dann widerlegt, wenn der Erblasser bei Errichtung der Verfügung bereits eine Heirat plante und trotzdem den zukünftigen Ehegatten nicht bedacht hat (BayObLG FamRZ 92, 988), nicht aber bereits allein dann, wenn der Erblasser seine Verfügung trotz Kenntniserlangung von der Pflichtteilsberechtigung nicht geändert hat (Hambg FamRZ 90, 910); es muss vielmehr feststehen, dass dies im Hinblick auf den Übergangenen bewusst geschehen ist (BayObLGZ 71, 147; KG ErbR 16, 456). Die Vermutung wird auch nicht allein dadurch widerlegt, dass der Erblasser sein Testament nicht ändert, nachdem er von der Existenz eines weiteren Pflichtteilsberechtigten erfahren hat (MüKo/Leipold § 2079 Rz 22; aA Frankf FamRZ 95, 1522).