Prof. Dr. Martin Avenarius
Gesetzestext
Lässt der Inhalt einer letztwilligen Verfügung verschiedene Auslegungen zu, so ist im Zweifel diejenige Auslegung vorzuziehen, bei welcher die Verfügung Erfolg haben kann.
A. Allgemeines.
I. Ziel der Auslegung.
Rn 1
Ziel der Auslegung ist allein die Ermittlung des Erblasserwillens nach dem Verständnis des Erblassers selbst, § 133. Nur bei wechselseitigen Verfügungen in Ehegattentestamenten und Erbverträgen kommt es auf den Horizont eines verständigen Dritten an (§ 157). Erst anschließend ist zu prüfen, ob der ermittelte Wille formgerecht Ausdruck gefunden hat. Liefert die Auslegung kein eindeutiges Ergebnis, so ist diejenige Auslegung vorzuziehen, bei der die Verfügung Erfolg haben kann, § 2084. Für die Auslegung kommt es allein auf den Zeitpunkt der Errichtung der letztwilligen Verfügung an (BGHZ 31, 13).
Rn 2
Im Prozess ist die Auslegung der Verfügung Aufgabe des Tatrichters. Das Revisionsgericht kann das Auslegungsergebnis nur danach überprüfen, ob es auf logischen oder methodischen Fehlern beruht (BGH NJW 93, 2168, 2170; BayObLG NJW-RR 02, 366 [BayObLG 09.11.2001 - 1 Z BR 31/01]). Das ist nicht schon dann der Fall, wenn auch eine andere Auslegung denkbar ist.
II. Auslegungsvertrag.
Rn 3
Um zeitintensive Streitigkeiten über die Auslegung zu verhindern und die oft erheblichen Verfahrenskosten zu sparen, können die Bedachten einen Auslegungsvertrag schließen, der eine bestimmte Auslegung – allerdings ohne Bindungswirkung für die staatliche Gerichtsbarkeit (Horn ZEV 16, 565) – festschreibt (Fischer ZfPW 23, 62). Er hat zur Folge, dass sich die Parteien schuldrechtlich verpflichten, die im Vertrag vereinbarte Rechtslage zu schaffen (BGH NJW 86, 1812 [BGH 22.01.1986 - IVa ZR 90/84]), und vertragswidrigen Ansprüchen im Prozess die Einrede der unzulässigen Rechtsausübung entgegenhalten können (Soergel/Loritz/Uffmann § 2084 Rz 35).
Rn 4
Es handelt sich dabei um einen atypischen Vertrag (BGH NJW 86, 1812 [BGH 22.01.1986 - IVa ZR 90/84]), der jedoch oftmals den Charakter eines Vergleichs, § 779, tragen wird. Soweit eine Erbanteilsübertragung (§ 2033) vereinbart wird, um der Vereinbarung auch dingliche Wirkung zu verleihen, fällt ein solcher Vertrag unter § 2385 I und bedarf der notariellen Beurkundung (§ 2371). Eine notarielle Beurkundung ist auch dann erforderlich, wenn infolge des Auslegungsvertrages die Verpflichtung entsteht, etwa ein Grundstück (§ 311b I) oder einen GmbH-Anteil (§ 15 GmbHG) zu übertragen.
B. Ermittlung des Willens.
I. Wortlautanalyse.
1. Einseitige Verfügungen.
Rn 5
Bei einseitigen Verfügungen als nicht empfangsbedürftigen Willenserklärungen ist als Auslegungsmaßstab allein der Verständnishorizont des Erblassers zum Errichtungszeitpunkt (Schlesw ZEV 13, 501) maßgeblich (§ 133). Keine Bedeutung hat der Horizont des von der Verfügung Betroffenen. Der Wortlaut bildet keine Auslegungsgrenze (BGH NJW 83, 672; FamRZ 02, 26). So ist etwa bei scheinbar eindeutigen Formulierungen eine atypische Ausdrucksweise des Erblassers oder ein am Wohnort des Erblassers üblicher Sprachgebrauch zu berücksichtigen (zB Bezeichnung der Ehefrau als ›Mutter‹). Es kommt nicht darauf an, wie die Verfügung von einem Dritten zu verstehen ist, sondern allein darauf, was der Erblasser ausdrücken wollte (BGH NJW 81, 1736, FamRZ 87, 475). Das gilt insb bei der Verwendung von juristischen Fachausdrücken durch Laien (Jena 31.7.18 – 6 W 14/16); so kann der Ausdruck ›vermachen‹ durchaus eine Erbeinsetzung bedeuten, eine ›Nacherbeneinsetzung nach dem Tode des länger lebenden Ehegatten‹ eine Schlusserbeneinsetzung (Hamm FamRZ 96, 312), die Zuwendung des ›Nießbrauchs am Nachlass‹ eine nicht befreite Vorerbschaft (BayObLG FamRZ 81, 403). Außerdem ist auf den Zweck der Anordnung zu sehen (Karlsr ZEV 04, 26 [OLG Karlsruhe 24.09.2003 - 9 U 59/03]; BGH ZEV 05, 117 [BGH 08.12.2004 - IV ZR 223/03]: Unwirksamkeit einer Pflichtteilsstrafklausel im Behindertentestament, wenn der Sozialhilfeträger den Pflichtteil verlangt). Nimmt der Erblasser Bezug auf Einrichtungen, die dem deutschen Recht fremd sind, so muss die Auslegung das entsprechende ausländische Recht sinngemäß berücksichtigen (Schlesw ZEV 14, 570).
Rn 6
Eine wichtige Auslegungshilfe ist der Textzusammenhang der letztwilligen Verfügung. So kann die Zusammenschau verschiedener Anordnungen des Erblassers als einheitlicher Regelungsplan des Erblassers oder die Mitteilung von Motiven für eine Anordnung Rückschlüsse auf deren Inhalt zulassen.
Rn 7
Lediglich bei einer von einem Notar beurkundeten Verfügung ist zu vermuten, dass der Notar den Erblasserwillen in eindeutiger und normkonformer Sprache niedergelegt hat (BayObLG FamRZ 96, 1037), es sei denn, es bestehen Anhaltspunkte dafür, dass der Notar die Gestaltungsziele des Erblassers nicht zutr verstanden hat (Hamm FamRZ 94, 188).
Rn 8
Eine Ausnahme gilt bei Verfügungen, die sich insofern an den Begünstigten richten, als sie ihn zu einem bestimmten Verhalten veranlassen wollen, also insb bei Bedingungen oder Auflagen. Hier kommt es auf den Horizont des Betroffenen an, weil dieser nach dem Willen des Erblassers die Anordnung gerade auf bestimmte Weise verstehen soll (Staud/Otte vo...