Prof. Dr. Martin Avenarius
A. Allgemeines.
Rn 1
Die Anfechtungsregeln der §§ 119 ff dienen dazu, die Willensfreiheit des Erklärenden wiederherzustellen, der eine wirksame Willenserklärung zum Schutz des Erklärungsempfängers nur unter bestimmten Voraussetzungen durch Anfechtung vernichten kann, § 142 I. Der Erblasser hingegen kann seine letztwillige Verfügung als einseitige, nicht empfangsbedürftige Willenserklärung jederzeit widerrufen, § 2253, bedarf also keines Anfechtungsrechts. §§ 2078 ff dienen deshalb allein dazu, Dritten, vgl § 2080, die Beseitigung einer auf einem Willensmangel des Erblassers beruhenden letztwilligen Verfügung nach Eintritt des Erbfalls zu ermöglichen.
Rn 2
Etwas anderes gilt für wechselbezügliche und somit bindende Verfügungen iSd § 2270 und erbvertragliche Verfügungen. Hier steht ein eigenes Anfechtungsrecht dem Erblasser zu (§ 2281), für den gem § 2282 ein Betreuer, nicht aber ein Bevollmächtigter handeln kann (Brandbg ZEV 20, 417 [OLG Brandenburg 10.03.2020 - 3 W 67/19] m Anm Zimmer). Dritte (§ 2080) leiten ihr Anfechtungsrecht insoweit von dem des Erblassers her, als sie nach Eintritt des Erbfalls nur anfechtungsberechtigt sind, wenn es der Erblasser zum Zeitpunkt seines Todes noch war, § 2285. Unterschiede bestehen wiederum im Verhältnis zur Anfechtung von Willenserklärungen unter Lebenden, denn trotz vertraglicher oder quasivertraglicher (§ 2270) Bindung kann der Erblasser seine Anfechtung auf einen beliebigen Motivirrtum stützen, §§ 2281 I, 2078 II (MüKo/Leipold § 2078 Rz 9; krit Soergel/Loritz/Uffmann § 2078 Rz 2, die sich jedoch gegen den klaren Gesetzeswortlaut stellen).
Rn 3
Die Anfechtung dient der Vernichtung der Wirkungen des irrtumsbehafteten Erblasserwillens, der zuvor durch Auslegung zu ermitteln ist (BGH NJW 78, 264 [BGH 29.09.1977 - II ZR 214/75]; BayObLG NJW-RR 02, 367 [BayObLG 12.11.2001 - 1 Z BR 134/00]). Die Anfechtung greift daher nur dann ein, wenn dem Erblasserwillen nicht durch Anwendung der erbrechtlichen Auslegungsmittel (vgl § 2084 Rn 5 ff) zur Geltung verholfen werden kann (BayObLG aaO). Gegenstand der Anfechtung ist nicht das Testament oder der Erbvertrag insgesamt, sondern nur jeweils eine einzelne Verfügung (BGH NJW 85, 2025 [BGH 08.05.1985 - IVa ZR 230/83]). Anfechtbar sind auch Akte nach §§ 2253 ff, etwa die Rücknahme aus amtlicher Verwahrung (BayObLG ZEV 05, 480; München ZEV 05, 482 [OLG München 11.05.2005 - 31 Wx 19/05]).
Rn 4
Folge der wirksamen Anfechtung ist ausschl die absolute Nichtigkeit der betroffenen Einzelverfügung (§ 142 I), so dass mangels Anordnung des Erblassers für diesen Fall insoweit die gesetzliche Erbfolge eintritt. Das gilt insb auch für die Anfechtung nach § 2079, so dass hier idR das gesamte Testament nichtig ist (BayObLGZ 80, 42, 49; Stuttg ZErb 18, 211; aA Köln NJW 56, 1522; MüKo/Leipold § 2079 Rz 25; Jung AcP 194, 77 ff: Nichtigkeit der Verfügung nur insoweit, als erforderlich um dem Übergangenen den gesetzlichen Erbteil einzuräumen). Etwas anderes gilt nur für einzelne Verfügungen, für die die Vermutung des § 2079 2 widerlegt worden ist (›soweit‹, Frankf FamRZ 95, 1522; BayObLG FGPrax 04, 130). Zu den Auswirkungen der erfolgreichen Anfechtung auf die nicht betroffenen Teile einer letztwilligen Verfügung vgl § 2085.
B. Anwendbare Normen.
Rn 5
§§ 2078, 2079 regeln anstelle der §§ 119, 120, 123 besondere Anfechtungsgründe. §§ 2080, 2281 I, 2285 regeln die im Allgemeinen Teil nicht gesondert regelungsbedürftige Anfechtungsberechtigung. §§ 2082, 2283 verdrängen die Regelungen der §§ 121, 124 zur Anfechtungsfrist. § 122 ist nicht anwendbar (§ 2078 III). Die Wirkung der Anfechtung ergibt sich hingegen aus § 142. Bzgl des Anfechtungsadressaten verdrängen §§ 2081, 2281 II in ihrem Anwendungsbereich den § 143. Der Erblasser kann die anfechtbare Verfügung bestätigen (§ 144 I), sodass den nach § 2080 Anfechtungsberechtigten kein Anfechtungsrecht zusteht.
C. Andere Unwirksamkeitsgründe.
Rn 6
Bevor die Anfechtung einer letztwilligen Verfügung in Betracht gezogen wird, sollte zunächst überprüft werden, ob nicht andere Unwirksamkeitsgründe vorliegen, also ob der Erblasser testierfähig war (§ 2229), ob er die Verfügung höchstpersönlich errichtet hat (§§ 2064, 2065) und ob er dabei Testierwillen (Vor § 2064 Rn 2) hatte. Denkbar ist auch, dass eine Verfügung gegen ein gesetzliches Verbot oder gegen die guten Sitten (Vor § 2064 Rn 13 ff) verstößt. Auch ist zu prüfen, ob eine Verfügung vorhergehende vertragsmäßige oder wechselbezügliche Verfügungen beeinträchtigt und deshalb insoweit unwirksam ist. Schließlich können infolge der Auflösung einer Ehe Verfügungen unwirksam geworden sein (§§ 2077, 2268, 2279, 2298).