Leitsatz (amtlich)
Im Anwendungsbereich des § 35 Abs. 6 StVO ist ein Entsorgungsfahrzeug auf der gesamten Fahrstrecke privilegiert, die das Fahrzeug bei der bestimmungsgemäßen Erledigung seines Auftrages zurückgelegt. Die Privilegierung greift nicht erst dann ein, wenn die Einhaltung der in der StVO für alle Fahrzeuge geltenden Vorschriften eine Entsorgung unmöglich machen würde.
Verfahrensgang
LG Saarbrücken (Urteil vom 17.02.2012; Aktenzeichen 12 O 364/10) |
Tenor
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil der 12. Zivilkammer des LG Saarbrücken vom 17.2.2012 - 12 O 364/10 - wird zurückgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Im vorliegenden Rechtsstreit nimmt der Kläger die Beklagten auf Zahlung von Schadensersatz wegen eines Verkehrsunfalls in Anspruch, der sich am 16.8.2010 in Neunkirchen/Nahe ereignete.
Am besagten Tag näherte sich die Ehefrau des Klägers, die Zeugin M., gegen 13:15 Uhr mit dem Pkw des Klägers, einem VW-Golf mit dem amtlichen Kennzeichen, aus der Lothringer Straße, einer Sackgasse, ihrer Wohnstraße, der Einmündung zur Straße "Im Pfarrwittum". In dieser Straße fuhr das vom Beklagten zu 1) gesteuerte, bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherte Entsorgungsfahrzeug der Firma, amtliches Kennzeichen, welches nach DIN 30710 als Entsorgungsfahrzeug gekennzeichnet war. Der Beklagte zu 1) näherte sich der Einmündung zur Lothringer Straße aus der Fahrtrichtung der Zeugin gesehen von rechts. Im Einmündungsbereich kam es sodann zur Kollision der beiden Fahrzeuge, wobei das Fahrzeug des Klägers mit seiner Front gegen die linke vordere Ecke des Entsorgungsfahrzeugs stieß.
Durch den Unfall entstand am Fahrzeug des Klägers ein wirtschaftlicher Totalschaden; der Wiederbeschaffungsaufwand beläuft sich auf 4.210 EUR. Außerdem wandte der Kläger für ein Sachverständigengutachten zur Ermittlung der Schadenshöhe 818,45 EUR auf. Der Kläger hat diese Beträge zzgl. einer Kostenpauschale von 25 EUR durch seine Prozessbevollmächtigten außergerichtlich gegenüber der Beklagten zu 2) geltend gemacht. Die Summe der vorgenannten Beträge bildet den Gegenstand der Klageforderung.
Der Kläger hat behauptet, die Zeugin habe an der Einmündung angehalten, zuerst nach links, dann nach rechts und nochmal nach links geschaut und habe dann losfahren wollen, um nach rechts in die Straße Im Pfarrwittum einzubiegen. In diesem Moment habe der Beklagte zu 1) das Entsorgungsfahrzeug nach links in den Einmündungsbereich der Lothringer Straße gelenkt, so dass es zum Zusammenstoß mit den klägerischen Fahrzeug gekommen sei. Der Kollisionsort habe in der Lothringer Straße jenseits der gedachten Begrenzungslinie zur Straße Im Pfarrwittum gelegen.
Er hat die Auffassung vertreten, der Schwenk des Entsorgungsfahrzeugs nach links in den Einmündungsbereich der Lothringer Straße sei Teil eines anschließend beabsichtigten Rückwärtsfahrmanövers des Beklagten zu 1) gewesen. Der Beklagte zu 1) habe daher die sich aus § 9 StVO ergebenden Sorgfaltspflichten beachten müssen. Außerdem habe das Fahrmanöver einem Wendevorgang gedient, so dass auch insoweit höchste Sorgfaltsanforderungen bestanden hätten. Der Beklagte zu 1) habe ohne Not die linke Seite der Straße Im Pfarrwittum befahren. Er sei daher verpflichtet gewesen, nur vorsichtig an den Einmündungsbereich heranzufahren und sich nötigenfalls eines Einweisers zu bedienen.
Der Kläger hat beantragt, die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an den Kläger 5.053,45 EUR nebst Zinsen i.H.v. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 20.10.2010 sowie vorgerichtliche Anwaltsgebühren i.H.v. 546,69 EUR ebenfalls nebst Zinsen i.H.v. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
Die Beklagten haben beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie haben behauptet, das Entsorgungsfahrzeug habe sich dem Einmündungsbereich in Schrittgeschwindigkeit genähert. Als es mit seiner Front den Einmündungsbereich bereits erreicht habe, sei die Zeugin plötzlich ohne anzuhalten und ohne vorher nach rechts gesehen zu haben, in den Kreuzungsbereich eingefahren und mit dem Beklagtenfahrzeug kollidiert.
Die Beklagten haben die Auffassung vertreten, die Zeugin habe sich dem für sie schwer einsehbaren Einmündungsbereich, an dem sie - dies steht nicht im Streit - von rechts kommenden Fahrzeuge die Vorfahrt zu gewähren hatte, nur mit einer geringen Annäherungsgeschwindigkeit von höchstens 15 km/h nähern dürfen. Der Beklagte zu 1) habe in Ausübung der gem. § 35 Abs. 6 StVO normierten Befugnis auch auf der linken Straßenseite fahren dürfen.
Das LG hat die Klage abgewiesen und hierbei die Auffassung vertreten, dass in der Haftungsabwägung nach § 17 StVG der Zeugin eine grobe Verletzung des Vorfahrtsrechts vorzuwerfen sei, wohingegen ein Verschulden der Beklagtenseite nicht nachgewiesen worden sei. Angesichts der groben Vorfahrtsverletzung komme auch eine Mithaftung aus der Betriebsgefahr des Beklagt...