Entscheidungsstichwort (Thema)
Beteiligtenfähigkeit im Beschlussverfahren nach Neuwahl des Betriebsrats (Prinzip der Funktionsnachfolge). Bestimmtheitsgebot bei Beschlussverfahren zu Mitbestimmungsfragen. Keine Einschränkung des Unterrichtungs- und Beratungsrechts aus § 90 BetrVG. Inhaltliche Reichweite des Unterrichtungs- und Beratungsrechts des Betriebsrats aus § 90 Abs. 1 Nr. 4 BetrVG
Leitsatz (amtlich)
Das Unterrichtungs- und Beratungsrecht aus § 90 Nr. 4 BetrVG besteht grundsätzlich dann, wenn Räume bzw. Arbeitsplätze als solche neu geplant oder umgeändert werden sollen. Die entsprechende Planung kann nicht losgelöst von der Anzahl der Arbeitnehmer erfolgen, die in den Räumen/an den Arbeitsplätzen beschäftigt werden sollen. Das Unterrichtungs- und Beratungsrecht besteht daher auch dann, wenn sich aus einer geänderten Zuweisung der Arbeitnehmer ein Planungsbedarf ergeben kann. Daher kann auch die Zuweisung einzelner oder mehrerer Arbeitnehmer zu vorhandenen Arbeitsplätzen das Unterrichtungs- und Beratungsrecht nach § 90 Nr. 4 BetrVG auslösen, wenn
1. die vorhandenen Räume/Arbeitsplätze von mehreren Arbeitgebern innerhalb eines Konzerns gemeinsam genutzt werden,
2. die Raum-/Arbeitsplatzplanung nicht diesen Arbeitgebern, sondern einer eigenständigen Konzerneinheit obliegt, welche ihrerseits nicht für den Personaleinsatz zuständig ist und
3. die Nutzung der Räume/Arbeitsplätze auch ein Desksharing beinhaltet.
Leitsatz (redaktionell)
1. Geht im Laufe eines Beschlussverfahrens die Zuständigkeit zur Wahrnehmung der verfahrensgegenständlichen Rechte auf ein anderes betriebsverfassungsrechtliches Gremium über (z.B. bei Neuwahl des Betriebsrats), wird dieses Beteiligter des anhängigen Beschlussverfahrens. Nach dem Prinzip der Funktionsnachfolge und dem Grundgedanken der Kontinuität betriebsverfassungsrechtlicher Interessenvertretungen ist der neu gewählte Betriebsrat Funktionsnachfolger seines Vorgängers und tritt in dessen Beteiligtenstellung in einem arbeitsgerichtlichen Beschlussverfahren ein.
2. Der Verfahrensgegenstand muss so konkret umschrieben werden, dass der Umfang der Rechtskraftwirkung für die Beteiligten nicht zweifelhaft ist. Der in Anspruch genommene Beteiligte muss bei einer dem Antrag stattgebenden Entscheidung eindeutig erkennen können, was von ihm verlangt wird. Das Gericht ist aber gehalten, eine entsprechende Auslegung des Antrags vorzunehmen, wenn hierdurch eine vom Antragsteller erkennbar erstrebte Sachentscheidung ermöglicht wird.
3. Das Unterrichts- und Beratungsrecht nach § 90 BetrVG kann durch Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarung nicht eingeschränkt werden. Zulässig sind nur kollektivrechtliche Regelungen zur Ausgestaltung, also zur Konkretisierung des Informations- oder Beratungsverfahrens.
Normenkette
BetrVG § 90 Nr. 4; ArbGG § 83 Abs. 3; ZPO § 308 Abs. 1; BetrVG § 80 Abs. 2, § 87 Abs. 1 Nr. 7
Verfahrensgang
ArbG Chemnitz (Entscheidung vom 11.01.2021; Aktenzeichen 11 BV 31/20) |
Tenor
I. Auf die Beschwerde des Beteiligten zu 1. wird der Beschluss des Arbeitsgerichts Chemnitz vom 11.01.2021 - 11 BV 31/20 - unter Zurückweisung der Beschwerde im Übrigen teilweise abgeändert und zur Klarstellung wie folgt gefasst:
1. Die Beteiligte zu 2. wird verpflichtet, den Beteiligten zu 1. vor abschließender Planung und Umsetzung
- von Standortveränderungen im Sinne einer räumlich-geografischen Verlagerung von Büroflächen und Arbeitsplätzen sowie
- räumlichen Veränderungen der Arbeitsplätze innerhalb der Standorte des Betriebs DT ISP sowie
- bei Änderung der Zuweisung oder erstmaliger Zuweisung einzelner Arbeitnehmer oder Gruppen von Arbeitnehmern zu bestehenden Arbeitsplätzen
unter Vorlage folgender Unterlagen bzw. Erteilung folgender Informationen umfassend zu unterrichten und sich mit ihm zu beraten:
- Wie viele Arbeitnehmer mit welcher Wochenarbeitszeit und welcher Funktionsbezeichnung sind von dem Umzug oder räumlichen Veränderung betroffen?
- Um welchen Standort handelt es sich?
- Wann soll der Umsetzungstermin sein?
- Folgende Details zu den Standorten:
• Anlagengröße
• Anzahl der Arbeitsplätze
• Wurden die Arbeitsschutzanforderungen eingehalten?
• In welcher Etage und in welchen Räumen sind die konkreten Arbeitsplätze der jeweils betroffenen Arbeitnehmer?
• Wie viele Arbeitnehmer mit welcher Wochenarbeitszeit befinden sich bereits im Team und wie viele weitere Arbeitnehmer sollen künftig noch in dem betreffenden Raum ihren Arbeitsplatz haben?
• Aufschlüsselung, in welcher Arbeitsform die Arbeitnehmer ihre Tätigkeit verrichten
- Raumplanübersicht
- Feinplanung der Arbeitsplätze und Belegung
2. Im Übrigen wird der Antrag zurückgewiesen.
II. Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen, soweit dem Antrag zu 1. stattgegeben wurde.
Gründe
A.
Der Antragsteller (im Folgenden auch: Betriebsrat) macht gegen die Beteiligte zu 2. (im Folgenden auch: Arbeitgeberin) geltend, bei Raumplanungen und Zuweisungen von Arbeitsplätzen umfassend informiert zu werden. Soweit es sich um Planungen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie handelt, begeh...