Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Offenkundigkeit des Wiedereinsetzungsgrundes. Überprüfung von Amts wegen. Versäumung der Klagefrist. Vertrauen in normale Postlaufzeiten. Jahresfrist gem § 67 Abs 3 SGG. unterlassene Wiedereinsetzungsentscheidung. Gewährung durch Rechtsmittelgericht oder Zurückverweisung an Vorinstanz
Leitsatz (amtlich)
Erreicht eine einen Werktag vor Ablauf der Klagefrist zur Post gegebene Klageschrift das Sozialgericht erst nach Fristablauf, ist auch ohne förmlichen Antrag über eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu entscheiden. Der Absender darf darauf vertrauen, dass die Post normale Laufzeiten einhält.
Hat das Sozialgericht die Klage als unzulässig (verfristet) abgewiesen, ohne über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu entscheiden, kann das Rechtsmittelgericht selbst Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewähren oder den Rechtsstreit an das Sozialgericht zurückverweisen, um der Klägerin die Möglichkeit zu eröffnen, eine bindende Wiedereinsetzung durch die Vorinstanz zu erlangen.
Orientierungssatz
Wenn eine Wiedereinsetzung auch ohne Antrag in Betracht kommt, kann ausnahmsweise trotz des fehlenden Antrags vor Ablauf der Jahresfrist des § 67 Abs 3 SGG Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden, wenn die hierfür maßgeblichen Tatsachen vor Ablauf der Jahresfrist für das Gericht erkennbar sind und die Prüfung der Rechtzeitigkeit der Klageerhebung allein aus in der Sphäre des Gerichts liegenden Gründen nicht innerhalb der Jahresfrist erfolgt ist.
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Lübeck vom 15. Mai 2009 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Entscheidung an das Sozialgericht Lübeck zurückverwiesen.
Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt einer erneuten Entscheidung des Sozialgerichts vorbehalten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin über den 5. Februar 2002 hinaus Anspruch auf Krankengeld hat. Im Berufungsverfahren ist dabei vorrangig von Bedeutung, ob das Sozialgericht die Klage zu Recht als unzulässig abgewiesen hat.
Mit Bescheid vom 18. August 2005 bewilligte die Beklagte der Klägerin Krankengeld bis einschließlich 5. Februar 2002 in Ausführung ihres Anerkenntnisses vom 13. Juni 2005 (S 19 KR 296/03). Darüber hinaus bestehe kein Anspruch, da ab diesem Zeitpunkt wieder Arbeitsfähigkeit vorliege. Den Widerspruch der Klägerin gegen diese Entscheidung wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 1. März 2006 zurück, der am selben Tage zur Post gegeben wurde.
Hiergegen hat die Klägerin am 5. April 2006 Klage beim Sozialgericht Lübeck erhoben. Sie habe die Klageschrift am 31. März 2006 verfasst und zur Post gegeben.
Durch Verfügung vom 21. April 2009 hat das Sozialgericht die Beteiligten darauf hingewiesen, dass die Klage verspätet erhoben worden und eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid beabsichtigt sei.
Mit Gerichtsbescheid vom 15. Mai 2009 hat das Sozialgericht die Klage als unzulässig abgewiesen, weil sie nicht innerhalb der Monatsfrist erhoben worden sei. Es sei nicht zutreffend, dass die Klageschrift am 31. März 2006 zur Post gegeben worden sei. Die Klage sei als Einschreiben an das Sozialgericht geschickt worden, das erst am 3. April 2006 bei einer Postfiliale eingeliefert worden sei. Die Klagefrist habe am 4. April 2006 geendet. Die Klage sei erst am 5. April 2006 bei dem Sozialgericht eingegangen. Gegen diesen der Klägerin am 23. Mai 2009 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich ihre Berufung, die am 15. Juni 2009 bei dem Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht eingegangen ist. Die Klägerin ist der Auffassung, dass ihr wegen des Versäumens der Klagefrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren wäre bzw. nunmehr zu gewähren sei. Sie hätte keine Veranlassung gehabt, nicht von einer normalen Postlaufzeit auszugehen. Unerheblich sei ihr Vortrag, nachdem das Sozialgericht erst drei Jahre nach Klageerhebung auf den verspäteten Zugang der Klage hingewiesen habe, dass die Klage bereits am 31. März 2006 zur Post gegeben worden sei.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Lübeck vom 15. Mai 2009 sowie den Bescheid der Beklagten vom 18. August 2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 1. März 2006 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr über den 5. Februar 2002 hinaus Krankengeld zu gewähren,
hilfsweise, den Rechtsstreit an das Sozialgericht Lübeck zur erneuten Entscheidung zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die Klage weiterhin für unzulässig. Die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand seien nicht gegeben.
Der Senat hat eine Auskunft der Deutschen Post vom 19. März 2010 eingeholt, wonach nach aktuellen Messungen ca. 95 % der täglich eingelieferten Briefe den Empfänger am ersten Werktag nach der Einlieferung erreicht...