Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. künstliche Befruchtung. Rechtswidrigkeit der Richtlinien über künstliche Befruchtung. Indikation für die Durchführung einer intracytoplasmatischen Spermieninjektion ≪ICSI≫. Unbilligkeit des Abstellens auf das Kriterium der progressiven Motilität

 

Orientierungssatz

1. Die Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über ärztliche Maßnahmen zur künstlichen Befruchtung (juris: KBRL) verstoßen gegen § 27a SGB 5 und damit gegen höherrangiges Recht; sie binden die Gerichte daher nicht (vgl BSG vom 10.11.2005 - B 3 KR 38/04 R = SozR 4-2500 § 37 Nr 6).

2. Aufgabe der Richtlinien über künstliche Befruchtung ist es nicht, Ansprüche, die das Gesetz dem Versicherten gibt, zu beseitigen, sondern diese Ansprüche gesetzeskonform so zu konkretisieren, dass die ärztliche Versorgung gesichert ist (vgl LSG Essen vom 8.7.2004 - L 2 KN 76/04 KR).

3. Die Entscheidung über den Leistungsanspruch des Versicherten richtet sich dann nach der Auslegung der materiell-rechtlichen Anspruchsgrundlage. Der dem G-BA eingeräumte Beurteilungsspielraum verwehrt es zwar den Gerichten, ihre eigenen Wertungen an die Stelle der Bewertung des G-BA zu setzen. Er hindert den Senat allerdings nicht daran, bei der Ermittlung der Grenzen des Gestaltungsspielraums die eigene Auslegung der Ermächtigungsnorm als maßgebend anzusehen.

4. Das Abstellen bei der Festlegung der Indikation für ICSI auf das starre Kriterium der Progression wird den Fällen nicht gerecht, bei denen eine sehr geringe Spermienkonzentration vorliegt.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 21.06.2011; Aktenzeichen B 1 KR 18/10 R)

 

Tenor

Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 8. April 2008 sowie der Bescheid der Beklagten vom 19. Juli 2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 14. Dezember 2005 aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, 3.026,26 EUR an den Kläger zu zahlen.

Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers für beide Instanzen zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Übernahme der Hälfte der Kosten einer künstlichen Befruchtung (erste ICSI-Behandlung im August 2006) in Höhe von 3.026,26 EUR.

Der 1963 geborene Kläger sowie seine 1967 geborene Ehefrau sind bei der Beklagten krankenversichert. Sie beantragten 2005 bei der Beklagten die Kostenübernahme für die Durchführung einer intracytoplasmatischen Spermieninjektion (ICSI) wegen männlicher Fertilitätsstörung.

Dabei handelt es sich um eine Technik der extrakorporalen Befruchtung, die im Wesentlichen bei Ehepaaren angewandt wird, die infolge einer Fertilitätsstörung des Mannes auf natürlichem Wege keine Kinder zeugen können. In solchen Fällen genügt es in der Regel nicht, Samen und Eizelle zur spontanen Verschmelzung im Reagenzglas zusammenzubringen (In-Vitro-Fertilisation (IVF)). Vielmehr muss ein einzelnes Spermium mit Hilfe einer mikroskopisch dünnen Nadel unmittelbar in die Eizelle injiziert werden. Die übrigen Einzelschritte des Verfahrens bestehen ebenso wie bei der In-Vitro-Fertilisation darin, durch Hormonbehandlung der Frau mehrere Eizellen verfügbar zu machen, dem Körper zu entnehmen und nach dem Befruchtungsvorgang als Embryo wieder in den Körper zu übertragen (so genannter Embryonen-Transfer).

Die Spermiogramme (Nativsperma) des Klägers ergaben folgende Werte:

ICSI-Indikationsbefund

29.10.03

03.10.03

13.04.05

Konzentration (Mio./ml)

  (10

 1,87

 0,31

 1,56

Gesamtmotilität(%)

  (30

   ?

   ?

   ?

Progressivmotilität (WHO A in %)

  (25

  25

  25

  66

Normalformen (%)

  (20

   ?

   ?

   ?

Mit Bescheid vom 19. Juli 2005 lehnte die Beklagte die Kostenübernahme mit der Begründung ab, die Voraussetzungen der Richtlinien über künstliche Befruchtung seien nicht erfüllt.

Hiergegen legte der Kläger mit Schreiben vom 15. August 2005 Widerspruch ein. Er machte geltend, die Ablehnung der Kostenübernahme für die ICSI-Behandlung widerspreche § 27a Sozialgesetzbuch, Fünftes Buch (SGB V), denn die von ihm begehrte ICSI-Behandlung stelle nach ärztlicher Kenntnis praktisch die einzige Möglichkeit dar, den vorhandenen Kinderwunsch zu realisieren. Nach Aussage der behandelnden Ärztin sei nur ICSI indiziert. Dem stehe auch nicht entgegen, dass die Kriterien der Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses über ärztliche Maßnahmen zur künstlichen Befruchtung (Richtlinien über künstliche Befruchtung) nicht erfüllt seien. Diese berücksichtigten nämlich nicht umfassend alle medizinisch denkbaren Fälle von Fertilitätsstörungen und führten daher in Fällen wie dem vorliegenden zu unzulässigen Leistungsausschlüssen. Die alleinige Berücksichtigung der progressiven Motilität führe, wenn - wie hier - die Spermienkonzentration deutlich zu gering sei, zu Unbilligkeiten. Die Sektion Endokrinologie und Reproduktionsmedizin des U. S.-H. habe bestätigt, dass aus medizinischer Sicht eine ICSI-Behandlung indiziert sei. Auch liege eine ICSI-Indikation nach den Richtlinien zur Durchführung der assistierenden Reproduktion de...

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