Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. sexueller Missbrauch in der Kindheit und Jugend. Glaubhaftmachung. sozialgerichtliches Verfahren. Unzumutbarkeit der Parteivernehmung. eigene Aussage des Opfers im Prozess nicht zwingend erforderlich

 

Leitsatz (amtlich)

1. Nach § 15 S 1 KOVVfG sind die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, der Entscheidung zugrunde zu legen, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind, soweit die Angaben nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen.

2. Erforderlich ist, dass der Antragsteller Angaben aus eigenem Wissen, jedenfalls überhaupt Angaben machen kann (vgl BSG vom 28.6.2000 - B 9 VG 3/99 R = SozR 3-3900 § 15 Nr 3).

3. Nicht erforderlich ist, dass der Antragsteller die Angaben vor einer Verwaltungsbehörde bzw einem Gericht macht.

 

Tenor

Die Berufung des beklagten Landes gegen das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 25. April 2012 wird zurückgewiesen.

Das beklagte Land trägt auch die Kosten der Klägerin für das Berufungsverfahren.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin einen Anspruch auf Entschädigungsleistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) aufgrund sexuellen Missbrauchs in Kindheit und Jugend hat.

Die am ........1974 in G... geborene Klägerin wuchs mit ihrer fünf Jahre jüngeren Schwester A... P... bei ihren Eltern E... S... Aa... und  X. P... auf. Sie besuchte zunächst ein Gymnasium in G.... Nach mehrfachem erfolglosem Wiederholen der zwölften Klasse, brach die Klägerin die Schulausbildung am 11.09.1995 ab. Eine Ausbildung hat die Klägerin nicht. Sie bezieht Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Sozialgesetzbuch, Zwölftes Buch (SGB XII). Seit dem 12. September 2008 ist für die Klägerin eine Betreuung für die Aufgabenbereiche “Sorge für die Gesundheit, Aufenthaltsbestimmung und Vertretung gegenüber Behörden und sonstigen Institutionen„ eingerichtet.

Am 15. Juni 1993 erstattete das Kreisjugendamt G... durch den Dipl. Sozialpädagogen H... O... bei der Kriminalpolizei G... Anzeige gegen den Vater der Klägerin wegen sexuellen Missbrauchs. Er gab dabei u.a. an, die Klägerin werde seit ihrem zwölften Lebensjahr von ihren leiblichen Vater, Dr. X. P..., missbraucht. Er - Herr O... - habe von mehreren glaubhaften Informationsquellen von dem Missbrauchshandlungen erfahren. Nun sei es zu einer Schwangerschaft gekommen und ein Abbruch sei am 16. Juni 1993 in F... beabsichtigt. Die Fahrt zum Abbruch solle in Begleitung des Vaters durchgeführt werden.

Eine am 16. Juni 1993 durchgeführte Untersuchung bestätigte eine Schwangerschaft der Klägerin nicht. Die Klägerin kehrte nicht in ihr Elternhaus zurück, sondern wurde ab dem 15.06.1993 in einer Einrichtung der Jugendhilfe (M...-L...-Stiftung) untergebracht.

Die Kriminalpolizei G... hörte die Klägerin am 18. Juni 1993 an. Diese gab an, dass sie sich nicht in der Lage sehe, Angaben zum sexuellen Missbrauch durch ihren Vater zu machen. Auf die Frage, ob alles so richtig sei, was die anderen über ihren Vater erzählt hätten, nickte die Klägerin zustimmend. Des Weiteren vernahm die Kriminalpolizei G... Oa... Ha..., D... B..., E... S... Aa..., N... R... und C... Ba... als Zeugen. J... Sa... wurde von der Kriminalpolizei K... vernommen.

Am 15.03.1994 stellte die Staatsanwaltschaft Hb... das Ermittlungsverfahren gegen X. P... mit der Begründung ein, zwar bestünden entgegen dem Vortrag der Verteidigung deutliche Anhaltspunkte dafür, dass es zu erheblichen sexuellen Übergriffen gekommen sei. Weil die Klägerin aber bisher keine Angaben gemacht habe, lasse sich ein hinreichender Tatverdacht nicht begründen. Zuvor hatte die Bevollmächtigte der Klägerin der Staatsanwaltschaft telefonisch mitgeteilt, dass die zeugenschaftliche Vernehmung der Klägerin auch auf absehbare Zeit nicht möglich sei.

Ein im Jahr 1997 erneut eingeleitetes Ermittlungsverfahren gegen den Vater der Klägerin wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs der Klägerin im Kindes- und Jugendalter, stellte Staatsanwaltschaft Hb... am 11.11.1997 ein. Am 22.07.2001 verstarb der Vater der Klägerin.

Auf den Antrag der Klägerin vom 11. August 2003 erkannte das Versorgungsamt Bb... mit Bescheid vom 16.02.2004 in der Fassung des Bescheides vom 23.08.2004 einen Grad der Behinderung (GdB) von 90 an und stellte die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung der Merkzeichen “G„ und “B„ fest. Der Entscheidung wurde das Vorliegen der Funktionsbeeinträchtigungen “ Seelische Störung mit funktionellen Organbeschwerden, psychogene Aphonie„ zugrunde gelegt.

Am 27.08.2003 beantragte die Klägerin bei dem beklagten Land die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG wegen der Schädigungsfolgen: Multiple Persönlichkeitsstörung, komplexe posttraumatische Belastungsstörung, Dysthymia mit generalisi...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge