Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufskrankheit. haftungsausfüllende Kausalität. Anlageleiden. bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule
Orientierungssatz
1. Aus der Erreichung der sogenannten "kritischen Lebensdosis" von 25 Mega-Newton-Stunden folgt nicht zwangsläufig die Anerkennung einer Lendenwirbelsäulenerkrankung als Berufskrankheit.
2. Gegen die wesentliche Mitursache beruflicher Einflüsse beim Zustandekommen der Wirbelsäulenveränderungen und damit gegen das Vorliegen einer Berufskrankheit gem BKVO Anl 1 Nr 2108 spricht es, wenn auch das Segment L3/L4 von degenerativen Veränderungen mitbetroffen ist.
Nachgehend
Tatbestand
Die Beklagte wendete sich mit ihrer Berufung dagegen, dass das Sozialgericht sie verurteilt hat, das Wirbelsäulenleiden des Klägers als Berufskrankheit nach der Nr. 2108 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) anzuerkennen.
Der 1940 geborene Kläger, der seit Mai 2000 die Altersrente für Schwerbehinderte bezieht, war ab 1962 beim Eichamt in F. als Eichhelfer und ab 1970 als technischer Angestellter tätig. Er war vorwiegend mit dem Prüfen verschiedener Arten von Waagen befasst. Nach seinen und den Angaben der Dienststelle hatte der Kläger bis ca. 1980 bei dem Be- und Entlasten von Waagen zum Zwecke der Prüfung beidseitig jeweils Gewichte bis zu 25 kg, selten bis zu 50 kg, zu tragen. Seitdem wurden Transportkarren zur Arbeitserleichterung eingesetzt, außerdem war der Kläger mit dem Prüfen von Waagen befasst, bei denen geringere Gewichte eingesetzt wurden. Ferner hatte die Zahl der Arbeitstage pro Jahr mit erhöhter körperlicher Belastung seitdem erheblich abgenommen.
Im März 1996 machte der Kläger bei der Beklagten ein Rücken-leiden als Berufskrankheit geltend. Er gab dabei an, seit 1978 Beschwerden im Rücken zu verspüren. Nach einem von der Beklagten beigezogenen Arztbrief des Orthopäden Dr. A. vom Juni 1988 wurde zu jener Zeit eine Lumbalgie bei lumbosakraler Übergangsstörung mit Nearthrose bei L5/S1 links diagnostiziert. Im Juli 1994 gab der Kläger in der Neurochirurgischen Klinik der Diakonissenanstalt F. an, seit ca. fünf Jahren unter Lumbalgien zu leiden. Er wurde in jenem Monat an einem Bandscheibenvorfall in Höhe L4/5 links operiert.
Nachdem die Beklagte mehrere Auskünfte der Dienststelle des Klägers über den Umfang seiner Beschäftigung und die damit verbundenen körperlichen Beanspruchungen eingeholt hatte, lehnte sie mit Bescheid vom 30. Oktober 1996 die Anerkennung der Rückenerkrankung als Berufskrankheit ab. Der Kläger sei zwar zweifellos zeitweise großen Belastungen durch schweres Heben und Tragen ausgesetzt gewesen. Diese körperlichen Beanspruchungen seien aber nicht in einer solchen Regelmäßigkeit und Häufigkeit erfolgt, dass hierauf die Rückenerkrankung zurückgeführt werden könne. Im Widerspruchsverfahren lagen der Beklagten ergänzende Auskünfte des Eichamtes F. vor. Mit Widerspruchsbescheid vom 24. April 1997 wurde der Rechtsbehelf des Klägers sodann zurückgewiesen. Zur Begründung führte die Beklagte u. a. aus, nach den Informationen zur beruflichen Tätigkeit des Klägers und seinen eigenen Angaben sei davon auszugehen, dass er nach dem 31. März 1988 nicht mehr in der erforderlichen Regelmäßigkeit schwer gehoben und getragen habe, wie das von 1962 bis 1980 der Fall gewesen sei. Die nach März 1988 angefallenen Hebe- und Tragetätigkeiten hätten den Kläger innerhalb einer Arbeitsschicht nicht zu einem wesentlichen Teil belastet. Der Kläger habe somit die ihn gefährdende Tätigkeit vor dem 31. März 1988 aufgegeben, sodass die mit der Einführung der Berufskrankheit Nr. 2108 verbundene Rückwirkungsvorschrift auf ihn nicht mehr anzuwenden sei.
Das hiergegen angerufene Sozialgericht Kiel hat von dem Orthopäden Dr. L. das Gutachten vom 3. August 1999 eingeholt. Ferner hat es den Amtsleiter des Eichamtes F., R. G., als Zeugen vernommen. Mit Urteil vom 22. Dezember 1999 hat das Sozialgericht die Beklagte antragsgemäß verurteilt, das Wirbelsäulenleiden des Klägers als Berufskrankheit nach Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV anzuerkennen.
Gegen dieses, der Beklagten am 24. Mai 2000 zugestellte Urteil richtet sich deren am 9. Juni 2000 eingelegte Berufung.
Zur Begründung führt die Beklagte aus, entgegen der Ansicht des Sozialgerichts hätten die körperlichen Beanspruchungen des Klägers nach 1980 kein solches Ausmaß gehabt, dass hierdurch eine Wirbelsäulenerkrankung habe verursacht werden können.
Hierzu hat die Beklagte eine Berechnung ihres Technischen Aufsichtsbeamten Dr. G., erstellt nach dem Mainz-Dortmunder-Dosismodell, vorgelegt.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Schleswig vom 22. Dezember 1999 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil in vollem Umfang für zutreffend.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf den weiteren Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verw...