Entscheidungsstichwort (Thema)
Einziehung. Bruttoprinzip. Entreicherung. Vollstreckung
Leitsatz (amtlich)
1. Die Neufassung des § 459 g StPO mit Wirkung ab dem 1. Juli 2021 durch das "Gesetz zur Fortentwicklung der Strafprozessordnung und Änderung anderer Vorschriften" vom 25. Juni 2021 (BGBl. 2021 I S. 2099) findet auch auf vor dem 1. Juli 2021 angeordnete Einziehungen des Wertes von Taterträgen Anwendung. Eine Anwendung des vorangegangenen Rechts als "milderes Gesetz" im Sinne von § 2 Abs. 3 StGB kommt nicht in Betracht (entgegen OLG Karlsruhe, Beschluss vom 25. Mai 2022 - 1 Ws 122/22 -, BeckRS 2022,11716).
2. Die Frage eines Abflusses des Erlangten - "Entreicherung" - kann auch nach neuem Recht die Unverhältnismäßigkeit der (weiteren) Vollstreckung begründen; allerdings bedarf es insoweit einer Gesamtschau aller in Betracht kommenden Belange.
3. Das Tatbestandsmerkmal der Verhältnismäßigkeit genügt, um den verfassungrechtlichen Anforderungen Rechnung zu tragen und besonders den Verurteilten vor unzumutbaren Härten zu schützen.
Orientierungssatz
Orientierungssätze:
Anwendung der Neufassung des § 459 g Abs. 5 StGB auf vor dem 1. Juli 2021 liegende Einziehungsfälle
Normenkette
StGB §§ 73 c, 73 d; StPO §§ 459a, 459 g
Verfahrensgang
LG Kiel (Entscheidung vom 22.11.2019) |
Tenor
- Die sofortige Beschwerde wird als unbegründet verworfen.
- Der Verurteilte trägt die Kosten seines Rechtsmittels.
Gründe
I.
1.
Der Verurteilte ist durch die 2. große Strafkammer des Landgerichts Kiel - Jugendkammer - mit Urteil vom 22. November 2019 - 2 Kls ... jug. - wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmittel in nicht geringer Menge in sieben Fällen im Zeitraum von April bis Oktober 2018 zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und einem Monat verurteilt worden. Daneben hat die Kammer die Einziehung von Wertersatz in Höhe von 53.130,00 € gegen den Verurteilten angeordnet und hierbei den annehmbaren Verkaufserlös - ausgehend von den Angaben des Verurteilten - des tatgegenständlichen Marihuanas zugrunde gelegt.
Der Verurteilte verbüßte in der Zeit vom 21. Februar bis zum 8. November 2019 Untersuchungs- und nach Rechtskraft des Urteils in der Zeit vom 4. Januar bis 31. August 2021 Strafhaft. Anschließend hielt er sich vom Tag seiner Entlassung bis zum 25. Oktober 2021 aufgrund einer Zurückstellung nach § 35 BtMG in der Therapieeinrichtung A. B. auf, die er allerdings vorzeitig verließ, weil er mit den dortigen Personen und Bedingungen nicht zurechtkam. Von einem zunächst erfolgten Widerruf der Zurückstellung und erneuten Strafvollstreckung sah die Staatsanwaltschaft Kiel ab, nachdem der Verurteilte Aufnahme in eine ambulante Rehabilitationsmaßnahme fand.
Nach den Feststellungen der Kammer wollte der Verurteilte von den Gewinnen aus den Drogengeschäften seinen Eigenkonsum finanzieren und hat hiervon auch seinen Lebensunterhalt bestritten. Im Zeitpunkt der Verurteilung verfügte der Angeklagte lediglich über einen Hauptschulabschluss. Er übte verschiedene Gelegenheitsjobs aus und bezog zeitweise auch Arbeitslosengeld
Seit Mai 2021 zahlt der Verurteilte aufgrund einer Ratenzahlungsbewilligung seitens der Staatsanwaltschaft Kiel auf den Einziehungsbetrag monatliche Raten in Höhe von 20,00 €.
2.
Mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 25. November 2021 hat der Verurteilte beantragt, das Unterbleiben der Vollstreckung der Einziehungsentscheidung gemäß § 459g Abs. 2 und 5 S. 1 StPO anzuordnen, da die Vollstreckung unverhältnismäßig sei.
Zu berücksichtigen sei zunächst das Auseinanderfallen zwischen tatsächlichen Taterträgen in Höhe von maximal 15.180,00 € - entsprechend einem Gewinn von 2.000 €/kg - und dem Einziehungsbetrag. Darüber hinaus befände sich das durch die Tat Erlangte nicht mehr in seinem Vermögen. Er habe das Geld "auf Grund (jugendlichen) Leichtsinns vorrangig zur Vergnügung bzw. für Genussmittel" ausgegeben. Er sei derzeit arbeitslos und habe ab dem 1. September 2021 ALG II beantragt. Nach Abschluss seiner Drogentherapie beabsichtige er, eine Ausbildung zum Maurer zu beginnen. Aus einer früheren Geldstrafe müsse er noch 4.500,00 € abtragen. Am 18. September 2020 sei er darüber hinaus Vater geworden und wolle für seinen Sohn gemeinsam mit seiner Partnerin auch finanziell sorgen. Die Vollstreckung erschwere daher seine Resozialisierung. Selbst nach Abschluss der Berufsausbildung sei ein zu erzielendes Arbeitseinkommen im untersten Einkommensbereich zu erwarten.
Die Staatsanwaltschaft ist dem Antrag entgegengetreten. Die Neuregelung des § 459g Abs. 5 StPO berücksichtige den Wegfall der Bereicherung beim Tatbeteiligten im Rahmen der Vollstreckung. Eine Unverhältnismäßigkeit im Sinne dieser Vorschrift sei nicht ersichtlich. Zu den Vermögensverhältnissen des Verurteilten lägen keine gesicherten Erkenntnisse vor. Ein Eintrag im Vollstreckungsportal sei nicht vorhanden. Laut Mitteilung der Drogenhilfe vom 7. Dezember 2021 solle der Verurteilte zusätzlich als Verkäufer in Teilzeit arbeiten. Die genauen Vermögensverhältnisse des Verurteilten und sei...