Leitsatz (amtlich)
1. Der gegen den Auffahrenden grundsätzlich sprechende Anscheinsbeweis ist entkräftet, wenn der Vorausfahrende im unmittelbaren örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Unfall vorher den Fahrstreifen gewechselt hat. Der zeitliche Zusammenhang zwischen dem Spurwechsel und dem Auffahren ist selbst dann noch nicht unterbrochen, wenn sich vorausfahrende Fahrstreifenwechsler zum Zeitpunkt der Kollision etwa fünf Sekunden auf dem Fahrstreifen des Auffahrenden befunden hat.
2. Der Anscheinsbeweis zu Lasten eines von hinten auf ein in die Vorfahrtstraße einbiegendes Fahrzeugs setzt voraus, dass beide Fahrzeuge so lange in einer Spur hintereinander hergefahren sind, dass sie sich auf die vorangegangenen Fahrbewegungen hätten einstellen können.
3. Wenn sich der Unfallhergang nach Beweisaufnahme als unaufklärbar darstellt, wirkt zu Lasten beider Unfallbeteiligten nur die Betriebsgefahr ihrer Fahrzeuge, was zu einer Quote von 50 % zu 50 % führt.
Normenkette
StVG §§ 7, 17; StVO § 1 Abs. 2, § 7 Abs. 5; VVG § 115; ZPO §§ 286, 529, 531
Tenor
1. Die Berufung des Klägers gegen das am 16. Februar 2022 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 17. Zivilkammer des Landgerichts Kiel, Aktenzeichen 17 O 163/20, wird zurückgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
3. Das in Ziffer 1 genannte Urteil des Landgerichts Kiel ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
4. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 7.052,46 EUR festgesetzt.
Gründe
Die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts Kiel vom 16.02.2022, Aktenzeichen 17 O 163/20, ist gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil nach einstimmiger Auffassung des Senats das Rechtsmittel offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts durch Urteil erfordert und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht geboten ist.
Zur Begründung wird auf den vorausgegangenen Hinweis des Senats vom 6. September 2022 Bezug genommen. In diesem hat der Senat ausgeführt:
"Gemäß § 513 ZPO kann die Berufung nur auf eine Rechtsverletzung oder darauf gestützt werden, dass die gemäß § 529 ZPO zu berücksichtigenden Feststellungen ein anderes als das landgerichtliche Ergebnis rechtfertigen. Beides liegt nicht vor. Denn das Landgericht hat in der angefochtenen Entscheidung der auf Zahlung von Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall gerichteten Klage zu Recht nur zum Teil stattgegeben.
Der Anspruch des Klägers gegen die Beklagte aus §§ 7, 17 Abs. 1 u. 2 StVG, § 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG geht jedenfalls nicht über die vom Landgericht zuerkannten Beträge zuzüglich Zinsen hinaus. Im Ergebnis ist dem Landgericht zu folgen, das eine Unaufklärbarkeit des Unfallhergangs angenommen und daraus eine Haftungsteilung hergeleitet hat.
1. Im Rahmen der bei einem Verkehrsunfall zweier Kraftfahrzeuge erforderlichen Abwägung gemäß § 17 Absatz 1 StVG ist auf die Umstände des Einzelfalles abzustellen, insbesondere darauf, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder anderen Teil verursacht worden ist. Bei der Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensanteile der Fahrer der beteiligten Fahrzeuge sind unter Berücksichtigung der von beiden Fahrzeugen ausgehenden Betriebsgefahr nur unstreitige bzw. zugestandene und bewiesene Umstände zu berücksichtigen. Jeder Halter hat dabei die Umstände zu beweisen, die dem anderen zum Verschulden gereichen und aus denen er für die nach § 17 Absatz 1 u. 2 StVG vorzunehmende Abwägung für sich günstige Rechtsfolgen herleiten will (vgl. BGH, NZV 1996, S. 231).
Hier kann zu Lasten keines Fahrers der beiden Unfallfahrzeuge ein Verkehrsverstoß mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden. Das Landgericht hat die Unfalldarstellung des Klägers, nach der sich der Unfall als klassischer Auffahrunfall darstellt, weil die Zeugin S1 auf sein Heck aufgefahren sei, nachdem er zuvor bereits geraume Zeit auf der Fahrbahn gestanden habe, nicht als erwiesen angesehen. Dies begegnet keinen Bedenken.
Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 286 ZPO) berechtigt das Gericht, die im Prozess gewonnenen Erkenntnisse grundsätzlich nach seiner individuellen Einschätzung zu bewerten, wobei der Richter lediglich an die Denk- und Naturgesetze und sonstigen Erfahrungssätze gebunden ist (vgl. Zöller/Greger, ZPO, 34. Aufl. § 286, Rn. 13). Ein Verstoß gegen diese Grundsätze ist nicht erkennbar. Im Übrigen steht die Wiederholung der Beweisaufnahme außerdem gem. §§ 529, 531 ZPO nicht mehr in reinem Ermessen des Berufungsgerichts. Sie ist im Sinne eines gebundenen Ermessens vielmehr nur dann zulässig, wenn konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der erstinstanzlichen Feststellungen begründen und eine gewisse - nicht notwendig überwiegende - Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass im Fall einer Beweiserhebung die erstinstanzlichen ...