Entscheidungsstichwort (Thema)

Objektiv willkürlicher Verweisungsbeschluss bei Nichtbeachtung sich aufdrängender Zuständigkeit/Verletzung rechtlichen Gehörs bei vollständigem Übergehen relevanten Parteivortrags zur Zuständigkeit

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der Grundsatz der Bindungswirkung von Verweisungsbeschlüssen gemäß § 281 Abs. 2 S. 4 ZPO wird lediglich in eng begrenzten, verfassungsrechtlich gebotenen Ausnahmefällen durchbrochen, namentlich bei einer Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) oder des aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) abzuleitenden Willkürverbots (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Juni 2003 - X ARZ 92/03 -, juris; BGH, Beschluss vom 06. Oktober 1993 - XII ARZ 22/93 -, Rn. 5, juris).

2. Objektiv willkürlich, weil offensichtlich unhaltbar und nicht mehr verständlich ist ein Verweisungsbeschluss auch dann, wenn das verweisende Gericht Akteninhalt unbeachtet lässt, aus dem sich die Zuständigkeit des verweisenden Gerichts geradezu aufdrängt und daher zwingend zu prüfen war. Dies ist der Fall, wenn sich das verweisende Gericht mit der Zuständigkeit gemäß § 21 ZPO nicht auseinandersetzt, obwohl sich eine Prüfung aufgedrängt hätte: Der streitgegenständliche Gegenstand wurde in einer Niederlassung der Beklagten erworben, die im Bezirk des verweisenden Amtsgerichts liegt, wie sich aus der als Anlage K1 der Klage beigefügten Rechnung ergibt.

3. Der Anspruch auf rechtliches Gehör wird auch dann verletzt, wenn sich ein Gericht mit Vorbringen einer Partei, das für die Zuständigkeitsfrage entscheidungserheblich ist, nicht auseinandersetzt, weil es den Eindruck erweckt, als habe es das Vorbringen einer Partei überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder jedenfalls bei seiner Entscheidung nicht erwogen. Wird ein Verweisungsbeschluss unter anderem damit begründet, die Klägerseite habe zu einer örtlichen Zuständigkeit - auch nach entsprechendem Hinweis des Gerichts - nicht vorgetragen, obwohl eine Partei ausdrücklich zur Zuständigkeit vorgetragen hat, handelt es sich um ein derart eklatantes Übergehen von Parteivortrag (in Form eines ausdrücklichen Negierens), dass der darin liegende Gehörsverstoß zum Entfall der Bindungswirkung führt. Dies gilt unabhängig davon, ob man eine Zuständigkeit des verweisenden Gerichts entsprechend der Argumentation in dem Parteivortrag (hier gemäß § 29 ZPO) im Ergebnis bejaht oder nicht, solange die von der Partei vertretene Zuständigkeit zumindest in Betracht zu ziehen war.

 

Normenkette

ZPO §§ 21, 29, 36, 281

 

Tenor

Als zuständiges Gericht wird das Amtsgericht Pinneberg bestimmt.

 

Gründe

I. Der Kläger erwarb am 25.10.2019 bei einem Standort der Beklagten in "Hamburg-X" (...straße ..., ... X) eine Couchgarnitur, die er dort am 15.02.2020 abholte. In der Folge kam es zwischen den Parteien zum Streit über etwaige Mängel an der Couchgarnitur und zu einem selbständigen Beweisverfahren vor dem Amtsgericht Pinneberg zum Aktenzeichen .... Der Kaufvertrag wurde schließlich rückabgewickelt.

Der Kläger hat am 22.02.2022 vor dem Amtsgericht Pinneberg Klage erhoben. Er macht gegen die Beklagte Ansprüche auf Erstattung von Kosten geltend, die in dem selbständigen Beweisverfahren vor dem Amtsgericht Pinneberg zum Aktenzeichen ... angefallen sind.

Die Beklagte hat ihren Sitz im Bezirk des Amtsgerichts Bochum. In der ...straße ..., ... X, befindet sich der Standort "Hamburg-X" der Beklagten.

Mit Verfügung vom 21.03.2022 hat das Amtsgericht Pinneberg darauf hingewiesen, dass die örtliche Zuständigkeit fraglich sei, der Sitz der Beklagten liege nicht im Bezirk des Amtsgerichts Pinneberg. Zu einem besonderen Gerichtsstand habe der Kläger nichts vorgetragen.

Daraufhin hat der Kläger mit Schriftsatz vom 30.03.2022 Stellung genommen und auf eine Zuständigkeit des Amtsgerichts Pinneberg gemäß § 29 ZPO verwiesen. Auf die Begründung im Einzelnen wird Bezug genommen.

Nach Eingang dieses Schreibens hat das Amtsgericht Pinneberg mit Verfügung vom 01.04.2022 um Mitteilung gebeten, ob Verweisungsantrag gestellt werde, ohne auf den Inhalt des Schriftsatzes einzugehen.

Daraufhin hat der Kläger durch Schriftsatz vom 02.05.2022 Verweisung des Rechtsstreits an das Amtsgericht Bochum beantragt.

Mit Beschluss vom 13.06.2022 hat sich das Amtsgericht Pinneberg für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit auf Antrag des Klägers an das Amtsgericht Bochum verwiesen, in dessen Bezirk sich der Sitz der Beklagten befinde. Ein besonderer Gerichtsstand, aus dem sich die örtliche Zuständigkeit des Amtsgerichts Pinneberg ergeben würde, sei nicht ersichtlich, die Klägerseite habe hierzu - auch nach entsprechendem Hinweis des Gerichts - nicht vorgetragen.

Mit Beschluss vom 29.06.2022 hat das Amtsgericht Bochum die Übernahme des Rechtsstreits abgelehnt und das Verfahren an das Amtsgericht Pinneberg zurückgesandt. Das Amtsgericht Pinneberg sei gemäß § 21 ZPO als Gericht der Niederlassung örtlich zuständig. Die Beklagte verfüge in X über eine Niederlassung, in welcher der Kläger die Couchgarnitur auch erworben habe. Der Klä...

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