Entscheidungsstichwort (Thema)
Der Versorger darf auch bei einem durch faktische Entnahme geschlossenen Wärmelieferungsvertrag die Belieferung der Vertragspartner mit Nahwärme zur Unzeit nicht unterbrechen oder ganz einstellen. Im Gegenzug sind die Vertragspartner verpflichtet, für die Wärmelieferung ein Entgelt zu zahlen, dessen Höhe dem jeweils gültigen Tarif eines vergleichbaren Regionalversorgers entspricht, wenn der betroffene Versorger selbst keine Verträge mit anderen Kunden in "nennenswertem Umfang unterhält".
Leitsatz (amtlich)
1. Die Gleichartigkeit nach § 2 Abs. 2 S. 2 AVBFernwärmeV erfordert, dass der Energieversorger tatsächlich vergleichbare Versorgungsverhältnisse mit anderen Kunden "in nennenswertem Umfang" unterhält. Es genügt nicht, wenn nur wenige Kunden (hier 9 von insgesamt 16) die von dem Versorger geforderten Preise und Lieferbedingungen akzeptiert haben. Diese Auslegung stellt keine Benachteiligung von kleineren Fernwärmeversorgern dar.
2. Sog. "Netzerrichtungsbeträge" in Grundstückskaufverträgen können im Einzelfall auch Bestandteil des Kaufpreises sein und damit zu den allgemeinen Erschließungskosten gehören. In solchen Fällen handelt sich rechtlich nicht um einen Baukostenzuschuss nach § 9 AVBFernwärmeV.
3. Die Nichtumsetzung eines vertraglich zugesagten Nahwärmeversorgungskonzeptes (hier dezentrales, auf erneuerbaren Energien basierendes Wärmeversorgungskonzept mit BHKW, KWK und Primärenergiefaktor von ≪ 0,5) kann für die Kunden ein Zurückbehaltungsrecht begründen. Die Kündigung des Wärmelieferungsvertrages durch den Versorger kann trotz Aufgabe seiner marktbeherrschenden Stellung nach Treu und Glauben bis zur Umsetzung des zugesagten Nahwärmeversorgungskonzeptes unzulässig sein.
Normenkette
AVBFernwärmeV § 2 Abs. 1-2, §§ 9, 30, 33 Abs. 2, 4 S. 1; BGB § 241 Abs. 1 S. 2, §§ 242, 271 Abs. 1, § 273 Abs. 1, § 314 Abs. 1, §§ 315, 1004; ZPO §§ 256, 265 Abs. 2 S. 1, §§ 296a, 531 Abs. 1, § 533
Verfahrensgang
LG Itzehoe (Urteil vom 30.11.2022; Aktenzeichen 7 O 85/19) |
Tenor
I. Auf die Berufung der Beklagten wird - unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen - das Urteil des Einzelrichters der 7. Zivilkammer des Landgerichts Itzehoe vom 30.11.2022 geändert und wie folgt neu gefasst:
1. Die Beklagte wird verurteilt, es zu unterlassen, die Wärmeversorgung für die Häuser in der E-Straße Nr. X, X, X, X und X in E zu unterbrechen oder einzustellen, Zug-um-Zug gegen Zahlung des jeweiligen vollständigen Entgeltes durch die Kläger, das für die Wärmeversorgung von den Stadtwerken E in deren Versorgungsgebiet "H" entsprechend dem jeweils aktuellen Preisblatt unter Ziffer 1 Wärmlieferung (gestaffelt nach Grundpreis, Arbeitspreis und Verrechnungspreis) gefordert wird.
2. Die Beklagte wird ferner verurteilt, die Fernwärmeversorgung der Häuser in der E-Straße, Hausnummern X, X und X in E, mittels einer energieeffizienten Wärmeerzeugungsanlage (WEA) vorzunehmen, die im Ergebnis einem planerischen Primärenergiefaktor von 0,5 (Stand August 2015) entspricht und diesen Primärenergiefaktor gegenüber den Klägern zu 1- 4 sowie 9 + 10 nach Fertigstellung der Anlage nachzuweisen.
3. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
4. Die Widerklage wird abgewiesen.
II. Die Kosten des Rechtsstreits in beiden Rechtszügen werden wie folgt aufgeteilt:
a) Erster Rechtszug: Von den Gerichtskosten tragen die Beklagte 82 %, die Kläger als Gesamtschuldner 10 % sowie die Kläger zu 5, 6, 7 und 8 jeweils weitere 2 %. Von den außergerichtlichen Kosten der Kläger zu 1, 2, 3 und 4 sowie 9 und 10 trägt die Beklagte jeweils 90 % und von den außergerichtlichen Kosten der Kläger zu 5, 6, 7 und 8 jeweils 70 %. Von den außergerichtlichen Kosten der Beklagten tragen die Kläger als Gesamtschuldner 10 % und die Kläger zu 5, 6, 7 und 8 jeweils weitere 2 %. Im Übrigen findet eine Kostenerstattung nicht statt.
b) Zweiter Rechtszug: Von den Kosten des Berufungsrechtszuges tragen die Kläger als Gesamtschuldner 10 % und die Beklagte 90 %.
III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung der Kläger gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 150.000,00 EUR abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leisten.
Gründe
Die Parteien streiten u.a. darüber, ob die Beklagte als Betreiberin einer containergestützten Gastherme die zentrale Nahwärmeversorgung für die betroffenen fünf Grundstücke der Kläger im "Wohnpark E" (WPE) einstellen darf sowie über die Verpflichtung der Beklagten zur Errichtung einer Wärmeerzeugungsanlage (WEA) mit einem bestimmten Primärenergiefaktor.
Die Beklagte (bis zur Umfirmierung am XX.XX.XXXX handelnd unter ihrem früheren Namen F KG, vertreten durch die F Ltd. mit damaligem Sitz B) verkaufte den Klägern mit notariellen Verträgen vom 3.12.2013 (Kläger zu 1 + 2), vom 23.12.2013 (Kläger zu 3 + 4) und vom 13.2.2015 (Kläger zu 9 + 10) jeweils ein von ihr erschlossenes Baugrundstück unter der im Rubrum jeweils angegebenen Anschrift in der E-Straße in E. Die Kläger zu 5 - 8 kauften ihr Hausgru...