Leitsatz (amtlich)
1. Die Verletzung der Anzeigepflicht (§ 19 Abs. 1 VVG) setzt voraus, dass nach den vom Versicherungsnehmer verschwiegenen Umständen in Textform gefragt worden ist. Soweit eine Frage unterschiedlich verstanden werden kann, braucht der Versicherungsnehmer nur das anzugeben, wonach zweifellos gefragt ist.
2. Wird im Antrag für den Abschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung nach Kopfschmerzen mit einer "Häufigkeit von mehr als 2 × pro Monat" gefragt, stellt die Annahme des Versicherungsnehmers, einmalig in einem Zeitraum von etwa zwei Monaten aufgetretener und dann folgenlos abgeklungener Kopfschmerz brauche (in Ermangelung einer chronischen Natur) nicht angegeben zu werden, jedenfalls keine grob fahrlässige Fehleinschätzung der Gefahrerheblichkeit dar.
3. Der vom Versicherungsnehmer beauftragte Makler, der dem Versicherungsnehmer bei der Ausfüllung des Versicherungsantrags behilflich ist, ist nicht Wissenserklärungsvertreter, dessen Erklärungen dem Versicherungsnehmer zugerechnet werden, wenn er den Antrag auf Abschluss der Versicherung neben dem Versicherungsnehmer mitunterschreibt.
Normenkette
VVG § 19
Verfahrensgang
LG Kiel (Urteil vom 17.05.2022; Aktenzeichen 5 O 113/21) |
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil der Einzelrichterin der 5. Zivilkammer des Landgerichts Kiel vom 17. Mai 2022 teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Es wird festgestellt, dass der durch die Beklagte mit Schreiben vom 23. Juli 2020 gegenüber der Klägerin erklärte Rücktritt von der Berufsunfähigkeitsversicherung unwirksam ist und der Vertrag zu unveränderten Bedingungen fortbesteht.
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin die außergerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 3.010,11 EUR zu zahlen.
Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
I. Die Parteien streiten über den Fortbestand einer Berufsunfähigkeitszusatzversicherung.
Die 1989 geborene Klägerin beantragte am 5. Dezember 2013 über den Versicherungsmakler bei der Beklagten den Abschluss einer Berufsunfähigkeitszusatzversicherung, die zum 1. Januar 2014 abgeschlossen wurde (Versicherungsschein, Anlage K 1 im Anlagenband). Die im Antrag gestellten Fragen, ob sie in den letzten 5 Jahren Erkrankungen, Gesundheits- oder Funktionsstörungen gehabt habe, aufgrund derer sie in Behandlung gewesen sei, sind sämtlich mit "nein" beantwortet, so auch die Fragen in Ziff. 6.9. und 6.12. des Antragsformulars (Anlage K 3, Anlagenband, 51/97), die wie folgt lauten:
Bestehen oder bestanden bei Ihnen in den letzten 5 Jahren Erkrankungen, Gesundheits- oder Funktionsstörungen, aufgrund derer Sie in Behandlung waren (zB. bei Ärzten, Heilpraktikern, Psychologen/Psychotherapeuten) bzw. Medikamente (mehr als 1x wöchentlich) einnehmen mussten, wegen:
[...]
6.9. Kopfschmerzen (Schmerzdauer ≫ 5 Stunden täglich, Häufigkeit ≫ 2 × pro Monat) oder Migräne
[...]
6.12. der Knochen, Gelenke, Muskeln, Bänder oder Sehnen (z.B. Bewegungseinschränkungen, Schmerzen, Arthritis, rheumatische Beschwerden, Verschleiß, Frakturen, Knieverletzungen, Beinverkürzungen, Bänderverletzungen, Hüftfehlstellungen, Schulter-Arm-Syndrom?
Mit der Übersendung der Vertragsunterlagen erhielt die Klägerin eine "Mitteilung nach § 19 Abs. 5 VVG über die Folgen einer Verletzung der gesetzlichen Anzeigepflicht" (Anlage K1, Seiten 7,8).
Die Klägerin hatte am 27. Oktober 2010 als Fahrgast in einem Bus einen Unfall erlitten, aufgrund dessen sie sich wegen Kopfschmerzen, Schwindel und Übelkeit noch am selben Tag bei dem Durchgangsarzt vorstellte, der am 27. Oktober 2010 zur Erstdiagnose einer HWS-Distorsion Folgendes ausführte (Arztbericht, Anlagenkonvolut K 11) :
"Die UV klagt [sic] Kopfschmerzen, Schwindel und Übelkeit, keine äußeren Verletzungen erkennbar, keine Amnesie, UV allseits orientiert, regelrechte Pupillenreaktion auf L/C, regelrechte Bulbusmotilität, die paravertebrale Nackenmuskulatur ist leicht verspannt, die Kopfdrehbewegung ist beidseitig endgradig schmerzhaft... Empfehlung von Schonung und lokaler Wärmeanwendung".
Die zu der Zeit als Pharmazeutisch-Technische Assistentin in einer Apotheke beschäftigte Klägerin war infolge des Unfalls bis zum 13. November 2010 arbeitsunfähig krankgeschrieben. Im Bericht zur Nachuntersuchung vom 13. Dezember 2010 (ebenfalls Anlagenkonvolut K 11) wird insoweit festgestellt: "Kopfrotation frei, Nackenmuskulatur nicht verspannt". Zu der Zeit klagte die Klägerin allerdings weiterhin über fortbestehende Kopfschmerzen, die sie vor dem Unfall nicht gehabt habe. Wegen der Kopfschmerzen hatte bei der Nachuntersuchung eine MRT-Untersuchung empfohlen; spätestens seit Januar 2011 war die Klägerin wieder beschwerdefrei.
Am 9. Juli 2017 erlitt die Klägerin eine zerebrale Sinusvenenthrombose, aufgrund derer sie zunächst arbeitsunfähig krankgeschrieben war. Verschiedene Versuche, sie wieder in ihren Beruf als pharmazeutisch-technische Assistentin einzugliedern, scheiterten. Die Klägerin leidet seither an kognitiven Ein...