Entscheidungsstichwort (Thema)
Steuerberaterhaftung wegen unterlassenen Hinweis auf Fehler des Finanzamtes mit Folgewirkung
Leitsatz (amtlich)
1. Es stellt eine Pflichtverletzung eines Steuerberaters dar, wenn dieser nicht den Mandanten auf einen von ihm erkannten Fehler des Finanzamts hinweist, bei dem das Risiko nachteiliger Folgewirkungen für den Mandanten besteht. So liegt es bei einer Falschanwendung des § 34 EStG durch das Finanzamt, weil und soweit der auf diese Weise gemäß § 34 Abs. 3 EStG erhaltene Steuervorteil vom Steuerpflichtigen "nur einmal im Leben" in Anspruch genommen werden kann.
2. Eine die Verjährung hemmende Eingehung eines Stillhalteabkommens im Sinne des § 205 BGB kann auch dadurch stillschweigend erfolgt sein, dass Mandant und Steuerberater verabreden, vor weiteren Schritten und insbesondere einer Inanspruchnahme des Steuerberaters zunächst den Finanzrechtsweg zu beschreiten und das dortige Ergebnis abzuwarten.
Normenkette
BGB §§ 203, 205, 611; EStG § 34
Verfahrensgang
LG Lübeck (Urteil vom 11.01.2024; Aktenzeichen 15 O 72/23) |
Tenor
Auf die Berufung der Kläger wird das Urteil des Landgerichts Lübeck vom 11. Januar 2024 (15 O 72/23) unter Zurückweisung der Berufung der Beklagten abgeändert:
Die Beklagte wird verurteilt, an die Kläger als Gesamtgläubiger einen Betrag in Höhe von 233.096,99 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 5. Februar 2023 zu zahlen.
Die Widerklage wird abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits in erster und zweiter Instanz trägt die Beklagte.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Jedoch kann die Beklagte die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht zuvor die Kläger Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.
Gründe
I. Die Parteien wenden sich mit wechselseitigen Berufungen gegen das Urteil des Landgerichts Lübeck vom 11. Januar 2024, mit dem die Beklagte unter Abweisung der Klage im Übrigen zur Zahlung von 220.267,60 EUR nebst Zinsen verurteilt und die Widerklage abgewiesen worden ist.
Die Kläger verlangen von der Beklagten, einer Steuerberaterpartnerschaft, Schadensersatz wegen Verletzung von Beratungspflichten im Zusammenhang mit einem Einkommensteuerbescheid für das Veranlagungsjahr 2006. Die Beklagte begehrt widerklagend die Zahlung von Steuerberaterhonorar für die Vertretung der Kläger in finanzgerichtlichen Verfahren wegen der Veranlagung zur Einkommensteuer für das Jahr 2016.
Die Kläger sind miteinander verheiratet und wurden für die Jahre 2006 und 2016 jeweils zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger war bis Januar 2016 Mitinhaber einer ärztlichen Gemeinschaftspraxis für Radiologie und Strahlentherapie in X..
Die Kläger hatten die Beklagte mit der Prüfung des Steuerbescheides über Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag des Finanzamtes Lübeck für das Veranlagungsjahr 2006 beauftragt. In dem Jahr hatte die Gemeinschaftspraxis des Klägers Nachzahlungen der Kassenärztlichen Vereinigung in Höhe von 39.932 EUR erhalten, die dem Kläger vom Finanzamt in einem Feststellungsbescheid anteilig in dieser Höhe als laufende tarifbegünstigte Einkünfte im Sinne des § 24 Nr. 1 und 3 EStG bzw. § 34 Abs. 2 Nr. 2 bis 4 EStG zugerechnet worden waren. Bei der Veranlagung der Kläger zur Einkommensteuer für 2006 erfasste das Finanzamt, ohne dass der Kläger einen entsprechenden Antrag gestellt hatte und ohne dass die weiteren Voraussetzungen gegeben waren, den Betrag von 39.932 EUR rechtswidrig als Veräußerungsgewinn und wendete den ermäßigten Steuersatz des § 34 Abs. 3 S. 1 EStG darauf an, was zugunsten der Kläger zu einer Steuerminderung von rund 8.000,00 Euro führte.
Die Beklagte erkannte, dass das Finanzamt diesen für die Kläger damals günstigeren, allerdings unzutreffenden Steuersatz angewendet hatte und teilte das den Klägern in ihrem Schreiben vom 11. Juni 2008 mit (Anlage K 2, Anlagenband Kläger). Darin heißt es auszugsweise:
"[...] Die Erhöhung wurde jedoch vom Finanzamt zu Ihren Gunsten mit nur 56 % des durchschnittlichen Steuersatzes statt mit der sog. Fünftelregelung besteuert. [...] Wir sehen von einem Einspruch ab, da dieser zu einer noch höheren Nachzahlung führen würde."
Auf dem am 10. Juni 2008 bei der Beklagten eingegangenen Bescheid vermerkte diese zudem:
"[...] Einspruch: Nachzahl. KV! VZ notiert: 1/5 Reg (-) § 34 Abs. 3 EStG -≫ nicht beantragt!".
Der für das Veranlagungsjahr 2006 am 9. Juni 2008 von dem Finanzamt Lübeck erlassene Bescheid wurde bestandskräftig.
Am 2. Januar 2016 veräußerte der Kläger seinen Anteil an der Gemeinschaftspraxis mit einem Veräußerungsgewinn von 1.176.690 EUR. Die Beklagten beantragten in der Steuererklärung für das Jahr 2016 für die Kläger, auf den Veräußerungsgewinn den ermäßigten Steuersatz gemäß § 34 Abs. 3 EStG wegen Vollendung des 55. Lebensjahres oder dauernder Berufsunfähigkeit (§ 34 Abs. 3 S. 1 EStG a.E.) anzuwenden. Mit Schreiben vom 19. September 2017 wie...