Leitsatz (amtlich)
1. Bei der Kollision eines Linksabbiegers mit dem Vorfahrtsberechtigten, der mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit fährt, kann eine Haftungsteilung geboten sein.
2. Die Unterscheidung zwischen innerörtlichem und außerörtlichem Verkehr ist formal zu betrachten.
3. Die Rechtsprechung des Kammergerichts zur regelmäßig vollen Haftung desjenigen, der im innerörtlichen Verkehr die zulässige Geschwindigkeit um mindestens 100% bei einer Geschwindigkeit von absolut über 100 km/h überschreitet, lässt sich nicht auf Fälle des außerörtlichen Verkehrs übertragen.
Verfahrensgang
LG Kiel (Urteil vom 02.06.2023; Aktenzeichen 2 O 107/22) |
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das am 2. Juni 2023 verkündete Urteil des Einzelrichters der 2. Zivilkammer des Landgerichts Kiel unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Es wird festgestellt, dass die Beklagten gesamtschuldnerisch verpflichtet sind, den Klägerinnen sämtliche immateriellen und materiellen Schäden aus dem Verkehrsunfall vom ... in F. zu 50 % zu ersetzen, sofern die Ansprüche nicht auf Dritte, insbesondere Sozialversicherungsträger, übergegangen sind oder übergehen werden.
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerinnen vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 1.134,55 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 14.06.2022, der Beklagte zu 1) darüber hinaus vom 12. bis zum 13.06.2022, zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits im ersten Rechtszug tragen die Klägerinnen als Gesamtschuldner zu 50 % und die Beklagten zu 50 %. Die Kosten der Berufung fallen den Klägerinnen als Gesamtschuldner zu 23 % und den Beklagten zu 77 % zur Last.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
I. Die Parteien streiten um Ansprüche aus einem Verkehrsunfall mit Todesfolge am ... in ...
Die Klägerin zu 1) ist die Witwe H., die Klägerinnen zu 2) und 3) seine Waisen. Herr H. befuhr mit seinem Motorrad bei eingeschaltetem Fahrlicht gegen 21:45 Uhr die K.-Straße. Am Ortsausgang der Ortschaft Wiemersdorf beschleunigte Herr H. das Motorrad, um einen Rettungswagen zu überholen. Auf dieser Strecke befand sich eine Baustelle. Hier war die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf 50 km/h beschränkt, was durch Verkehrszeichen 274 bekanntgegeben war. Die Bauarbeiten waren bereits abgeschlossen. Ohne die noch wirksame Geschwindigkeitsbeschränkung hätte auf dieser Strecke die reguläre außerörtliche Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h gegolten. Herrn H. entgegen kam der Beklagte zu 1) als Fahrer des bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten Pkw. Der Beklagte zu 1) beabsichtigte nach links abzubiegen. Er nahm den Überholvorgang des Motorradfahrers wahr und sah das Scheinwerferlicht des Motorrades. Dem Beklagten zu 1) war bekannt, dass während der Dauer der Baustelle für den entgegenkommenden Verkehr eine Geschwindigkeitsbeschränkung von 50 km/h angeordnet war. Er schätzte die Geschwindigkeit des entgegenkommenden Motorrades zu niedrig ein, so dass er mit dem Abbiegemanöver begann, weil er glaubte, den Abbiegevorgang gefahrlos zu Ende führen zu können. Mit der wahren Geschwindigkeit des Motorrades rechnete er nicht. Angesichts des links abbiegenden Beklagten zu 1) leitete Herr H. eine Vollbremsung ein. Dabei verlor er die Kontrolle über das Motorrad, stürzte und prallte gegen die Beifahrerseite des Pkws. Dabei wurde er so schwer verletzt, dass er sofort verstarb. Der in dem Strafverfahren gegen den Beklagten beauftragte Gutachter errechnete, dass Herr H. zum Zeitpunkt der Reaktionseinleitung vor der Kollision das Motorrad auf 109 bis 124 km/h beschleunigte. Bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h hätte Herr H. sein Motorrad im Moment der Reaktionsaufforderung noch rechtzeitig durch eine spurstabile Abbremsung anhalten können. Dies wäre ihm selbst bei einer Geschwindigkeit von 75 km/h noch möglich gewesen. Wegen der Einzelheiten wird auf das Gutachten des Sachverständigen vom 27.05.2021 (Bl. 46-98 der Beiakten) Bezug genommen.
Die Klägerinnen haben behauptet, zum Unfallzeitpunkt sei die Fahrbahnoberfläche durch einsetzenden Regen feucht gewesen. Bei Zugrundelegung einer feuchten Fahrbahn hätte der Sachverständige zu einer niedrigeren Ausgangsgeschwindigkeit kommen müssen. Das Verkehrszeichen 274 habe Herr H. nicht wahrnehmen können, weil er sich bereits im Überholvorgang befunden habe, so dass die Sicht auf das Verkehrszeichen durch den zu überholenden Rettungswagen verdeckt gewesen sei. Neben vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten haben sie die Beklagte auf umfassende Feststellung nach einer Quote von 100 % in Anspruch genommen.
Die Beklagten haben die Auffassung vertreten, der Verkehrsunfall sei für den Beklagten zu 1) unabwendbar gewesen. Auf die erhebliche Geschwindigkeitsüberschreitung des Unfallgegners habe er sich nicht einstellen können, zumal die Geschwindigkeit des Motorrades gerade in der zum Unfallzeitpunkt her...