Entscheidungsstichwort (Thema)

Schmerzensgeld: Verjährungshemmung durch höhere Gewalt bei psychisch unmöglicher Anspruchsdurchsetzung infolge einer posttraumatischen Belastungsstörung

 

Leitsatz (amtlich)

Der Geschädigte ist durch höhere Gewalt an der Rechtsverfolgung gehindert, wenn und solange er psychisch außer Stande gewesen ist, sich sachgemäß für oder gegen die Durchsetzung von Ansprüchen gegen den Schädiger zu entscheiden (hier aufgrund posttraumatischer Belastungsstörung wegen in der Kindheit erlittenen sexuellen Missbrauchs).(Rz. 16)

 

Normenkette

BGB a.F. § 203 Abs. 2, § 205; BGB §§ 206, 209, 253 Abs. 2

 

Verfahrensgang

LG Lübeck (Urteil vom 19.08.2011; Aktenzeichen 6 O 280/09)

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird das am 19.8.2011 verkündete Urteil des Einzelrichters der 6. Zivilkammer des LG Lübeck abgeändert.

Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld von 15.000 EUR zu zahlen.

Die Kosten des Rechtsstreits in beiden Instanzen trägt der Beklagte.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 15.000 EUR festgesetzt.

 

Gründe

I. Die Klägerin verlangt vom Beklagten die Zahlung eines Schmerzensgeldes. Sie wirft ihm vor, sie sexuell missbraucht zu haben, als sie noch ein Kind war ...

... Das LG hat ... durch das angefochtene Urteil die Klage wegen Verjährung abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt:

Anspruchsgrundlage seien die §§ 823 Abs. 1, 823 Abs. 2, 847 BGB in der bis zum 1.1.2002 geltenden Fassung. Der Schmerzensgeldanspruch der Klägerin zum Ausgleich der behaupteten, seit 2007 vorliegenden psychischen Spätfolgen sei verjährt. Die Verjährungsfrist richte sich nach § 852 Abs. 1 BGB a.F.; die Missbrauchstaten begründeten schon die Gesundheitsschädigung. Bei den Spätfolgen handele es sich nicht um die erstmalige Manifestation eines Schadens aus diesen Taten. Der Anspruch verjähre deshalb in drei Jahren von dem Zeitpunkt an, zu dem die Klägerin von dem Schaden und der Person des Ersatzpflichtigen Kenntnis erlangt habe. Die Verjährung sei ... drei Jahre nach Volljährigkeit der Klägerin abgelaufen ...

Mit der Berufung bekämpft die Klägerin die Rechtsauffassung des LG und fügt an, dass im angefochtenen Urteil die Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung zu den Fällen fehle, in denen der Verletzte geltend mache, er sei infolge der an ihm verübten Taten psychisch außer Stande gewesen, die eigenen Rechte zu verfolgen, so dass deshalb die Verjährung gehemmt gewesen sei.

Die Klägerin beantragt, das Urteil abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, an sie ein in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld, mindestens aber 10.000 EUR zu zahlen.

Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat gem. § 358a ZPO ein schriftliches Sachverständigengutachten des Privatdozenten Dr. X ... eingeholt ...

II. Die zulässige Berufung der Klägerin hat Erfolg. Der Klägerin steht ein vom Senat für angemessen gehaltenes Schmerzensgeld wegen des erlittenen Missbrauchs und der darauf beruhenden Folgen i.H.v. 15.000 EUR gemäß den §§ 823 Abs. 1 und 2, 847 BGB a.F. zu.

1. Der Beklagte hat die Klägerin ... zwischen ihrem 6. und 12. Lebensjahr (1978 - 1984) regelmäßig in der von ihr vorgetragenen Art und Weise sexuell missbraucht. Das steht für den Senat auch ohne Einholung eines Glaubwürdigkeitsgutachtens ohne wenn und aber fest. Die Klägerin schildert den Ablauf der einzelnen Missbrauchstaten in einer Art und Weise, die in sich stimmig und schlüssig ist und die sicher dafür spricht, dass sie wirklich Erlebtes wiedergibt. Niemand denkt sich ein solches Geschehen ... aus oder bildet es sich nur ein. Auch der Sachverständige Dr. X hat, auch wenn er betont, kein Glaubwürdigkeitsgutachten erstellt zu haben, keinerlei Zweifel daran, dass die Klägerin einen wirklich durch den Beklagten erlebten jahrelangen Missbrauch beschrieben hat. Schließlich spricht für die Glaubwürdigkeit der Klägerin auch die Aussage des Zeugen ... dem es ähnlich wie ihr ergangen ist. Auch der Zeuge ist mehrfach von dem Beklagten sexuell missbraucht worden. Der Zeuge hat sich gequält, die Vorgänge von damals wieder ans Licht kommen zu lassen. Der Senat hält seine Aussage uneingeschränkt für wahr und wirklich erlebt. Entgegen der Auffassung des Beklagten, der alles für Lügengespinste hält, gibt es keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass sich die Klägerin und der Zeuge ... die von ihnen geschilderten und sie ersichtlich quälenden Missbrauchsfälle aus der Kindheit ausgedacht haben könnten. Für die Einholung eines Glaubwürdigkeitsgutachtens bestand deshalb kein Anlass.

2. Der Senat hält gem. § 847 BGB a.F. ein Schmerzensgeld i.H.v. 15.000 EUR für angemessen.

Bei der Bemessung der Höhe des Schmerzensgeldes hat der Senat den bewiesenen Umstand des erlittenen sexuellen Missbrauchs zwischen dem 6. und 12. Lebensjahr der Klägerin und die sicher mit dem Missbrauch zusammenhängenden gesundheitlichen Folgen, nämlich die posttraumatische Belastungsstörung berücksichtigt. Die posttraumatische Belastungsstör...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?