Entscheidungsstichwort (Thema)
Freiwilligkeitsnachweis i.S.v. § 188a VVG a.F.
Leitsatz (amtlich)
Zu den Anforderungen an den Nachweis der Freiwilligkeit der Gesundheitsbeschädigung i.S.v. § 180a VVG a.F., für die der Versicherer beweisbelastet ist.
Normenkette
VVG a.F. § 180a
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Einzelrichters der 6. Zivilkammer des LG Kiel vom 8.10.2010 unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen abgeändert:
Die Beklagte wird verurteilt, an das Dienstleistungszentrum N., Arbeitsgemeinschaft Stadt N. und Agentur für Arbeit, 100.000 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 12.9.2006 zu zahlen; im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits in beiden Instanzen trägt die Beklagte.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung der Klägerin durch Sicherheitsleistung i.H.v. 120 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit i.H.v. 120 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Gründe
I. Die Klägerin begehrt die Invaliditätsleistung aus einem Unfallversicherungsvertrag, den sie am 15.3.2006 zugunsten ihres Lebensgefährten, des Zeugen H:, beantragt hatte. Dieser hat sich am 9.4.2006 im Ferienhaus ihrer Eltern in Polen an einer Tischkreissäge den rechten Daumen abgesägt. Die Beklagte hat die Leistung nach Einholung eines rechtsmedizinischen Gutachtens abgelehnt; es habe sich um eine freiwillig beigebrachte Selbstverstümmelung gehandelt. Die Klägerin trat danach ihren Anspruch aus dem Versicherungsvertrag an das Dienstleistungszentrum N. ab.
Das LG hat die Klage, die auf Zahlung von 100.000 EUR nebst Zinsen seit dem 7.9.2006 an das Dienstleistungszentrum (hilfsweise an die Klägerin selbst) sowie auf Freihaltung von vorgerichtlichen Anwaltskosten von 1.232,25 EUR gerichtet gewesen ist, nach Beweisaufnahme - Vernehmung der Zeugen H. und D. sowie Einholung eines rechtsmedizinischen Gutachtens des Herrn Prof. Dr. K. - abgewiesen. Es hat sich davon überzeugt gesehen, dass der Zeuge H. sich den Daumen freiwillig abgesägt hat, um die Versicherungsleistung zu erlangen. Gegen eine Unfreiwilligkeit des Geschehens spreche schon die isolierte Verletzung nur des Daumens ohne Begleitverletzungen am Zeigefinger; die Einnahme ausgerechnet der für den glatten Abschnitt des Daumens erforderlichen sog. Exekutionshaltung sei unwahrscheinlich. Es gebe - seitens der Klägerin, des Zeugen D. sowie (zweifach) des Zeugen H. - vier untereinander abweichende Darstellungen zu dem angeblichen Unfall. Die Aussage des Zeugen D. sei nicht glaubhaft; mit "rudernden Armen", eine Schilderung, die in unvereinbarem Gegensatz zum Vortrag in der Klagschrift stehe, könne es nicht zu der Exekutionshaltung gekommen sein. Dem Zeugen H. sei nicht abzunehmen, dass er sich nicht mehr erinnern könne; zudem schildere er das Randgeschehen sehr detailreich, den eigentlichen Unfallhergang aber nicht. Daneben sprächen auch der Abschluss gleich zweier Unfallversicherungen (einer weiteren bei der A., aus der die Klägerin 50.000 EUR beansprucht) mit erheblichen Versicherungsleistungen bei finanziellen Schwierigkeiten der Familie, zwei Haftanordnungen gegen den Zeugen H. zur Abgabe der eidesstattlichen Versicherung vom November 2005 und die Abweisung eines (vom Finanzamt gestellten) Insolvenzantrags mangels Masse am 14.3.2006 für einen absichtlich herbeigeführten Versicherungsfall. In die gleiche Richtung deute das angebliche Verschwinden des Amputats, ein häufiger Begleitumstand bei selbstbeigebrachten Verletzungen.
Hiergegen richtet sich die Berufung der Klägerin. Sie macht geltend, bei seiner Beweiswürdigung habe das LG verkannt, dass ein Unfallereignis im Sinne der Versicherungsbedingungen feststehe. Den Beweis der Freiwilligkeit habe die Beklagte nicht geführt. Ihr Versuch mit dem Parteigutachten Prof. Dr. C. sei fehlgegangen, weil bereits mit dem Gutachten des Dr. T. eine Gesundheitsbeschädigung durch Sturz als möglich nachgewiesen worden sei. Nicht anders stelle es sich nach dem Gerichtsgutachten dar. Schon deshalb könne Zweifeln an der Unfreiwilligkeit nicht Schweigen geboten werden. Was die Bewertung der Zeugenaussagen angehe, verkenne das LG, dass sich das Unfallereignis in Sekundenbruchteilen abgespielt und zu dem für beide Zeugen eine Sprachbarriere bestanden habe. Die geringfügigen Abweichungen der beiden Zeugendarstellungen sprächen nicht gegen, sondern gerade für deren Glaubwürdigkeit. Der Zeuge D. habe zudem während des Vorfalls telefoniert. Was die vom LG angeführten weiteren Umstände angehe, so habe es verkannt, dass es sich dabei allenfalls um Indizien handele, die in der Gesamtschau hinter die als Ergebnis der Beweisaufnahme festgestellten Tatsachen zurücktreten müssten.
Die Klägerin beantragt, unter Abänderung des Urteils des LG Kiel vom 8.10.2010 - 6 O 77/07
1. die Beklagte zu verurteilen, an das D...