Rz. 220
Eine Anrechnung der Geschäftsgebühr für die außergerichtliche Vertretung auf die Verfahrensgebühr des nachfolgenden Rechtsstreits erfolgt nur teilweise. Dabei bezieht sich die Regelung des Abs. 4 ausdrücklich auf "eine Geschäftsgebühr nach Teil 2", also auch auf das einfache Schreiben, für das unter Geltung der BRAGO umstritten war, inwieweit eine Anrechnung zu erfolgen hatte.
Rz. 221
Mit dem neu gefassten Abs. 4 der VV Vorb. 3 wird jetzt auch in sozialgerichtlichen Verfahren, in denen gemäß § 3 Abs. 1 Betragsrahmengebühren anfallen, eine Anrechnung der Geschäftsgebühr eingeführt und damit von den bei Vorbefassung ermäßigten Gebührenrahmen Abstand genommen. Mittelbar ergibt sich auch für die verwaltungsrechtlichen Verfahren eine Änderung bei der Gebührenberechnung, weil die nach Abs. 4 anzurechnende Gebühr jetzt immer nur die nach VV 2300 sein kann, da die Zweispurigkeit der Geschäftsgebühr mit und ohne Vorbefassung entfallen ist.
Rz. 222
Nach der Gesetzesbegründung ist die nur teilweise Anrechnung systematisch erforderlich. Eine Gleichbehandlung des Anwalts, der sogleich einen Klageauftrag erhalten habe, und eines Anwalts, der zunächst außergerichtlich tätig gewesen sei, sei nicht zu rechtfertigen. Andererseits sei die Anrechnung erforderlich, um dem Eindruck entgegenzuwirken, der Anwalt habe ein gebührenrechtliches Interesse an der Durchführung des Klageverfahrens. Dies entspreche dem Grundgedanken des RVG, die außergerichtliche Streitbeilegung zu fördern.
Rz. 223
Die prozessualen Folgen dieser teilweisen Anrechnung waren über viele Jahre Gegenstand einer kontroversen Diskussion: Während es bei Inkrafttreten des RVG nahezu einhellige Meinung war, dass aufgrund der Anrechnungsvorschrift ein Teil der Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr verrechnet wird und der verbleibende Teil vom Anwalt – allein oder zusammen mit der Hauptforderung – gerichtlich geltend gemacht werden muss, hatte der BGH in seiner Entscheidung vom 7.3.2007 dieser Vorgehensweise eine Absage erteilt. Nach dem Gesetzeswortlaut in Abs. 4 sei die gerichtliche Verfahrensgebühr zu mindern und nicht die vorgerichtliche Geschäftsgebühr. Dieser klare Wortlaut dürfe auch nicht aus Gründen der Prozessökonomie vor dem Hintergrund ignoriert werden, dass die Geschäftsgebühr im Kostenfestsetzungsverfahren nach §§ 103, 104 ZPO nicht berücksichtigt werden könne.
Rz. 224
Umstritten war dann als Folgeproblem der vom BGH entschiedenen Anrechnungsfrage in Rechtsprechung und Literatur, ob die Anrechnung zu berücksichtigen ist, wenn der Mandant mit dem materiell-rechtlichen Kostenerstattungsanspruch nicht durchgedrungen war. Nach einer Ansicht konnte er in diesen Fällen seinen vollen prozessualen Kostenerstattungsanspruch im Festsetzungsverfahren anmelden, da in diesem Verfahren eine Anrechnung nur berücksichtigt werde, wenn die Geschäftsgebühr tituliert bzw. unstreitig gezahlt worden sei. Nach der Gegenansicht, der sich auch die Mehrzahl der Senate des BGH angeschlossen hatten, war die Anrechnung der außergerichtlichen Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr dagegen immer zu berücksichtigen. Dies galt zum einen dann, wenn zugunsten der erstattungsberechtigten Partei ein materiell-rechtlicher Erstattungsanspruch auf Zahlung der Geschäftsgebühr nicht besteht und zum anderen auch dann, wenn die Geschäftsgebühr nicht geltend gemacht, nicht tituliert und auch vom Gegner nicht bezahlt worden ist.
Sowohl hinsichtlich der gebührenrechtlichen Ausführungen als auch hinsichtlich der praktischen Auswirkungen auf die Durchführung des Kostenfestsetzungsverfahrens ist die Entscheidung des BGH vom 22.1.2008 auf vehemente Kritik gestoßen. Insbesondere Hansens hat hier eingehend dargelegt, dass die vom BGH geforderte substantiierte Darlegung des Erstattungspflichtigen zum Anfall und zur Höhe der Geschäftsgebühr nur in Ausnahmefällen möglich ist, dass keine Ausführungen dazu erfolgt sind, wie zu verfahren ist, wenn der Erstattungspflichtige seiner Glaubhaftmachungslast zur Höhe der Geschäftsgebühr nicht genügt, dass die Fälle der seit dem 31.12.2006 möglichen rückwärtigen Anrechnung sowie der Anrechnung einer Beratungsgebühr und der Anrechnung im Mahnverfahren nicht befriedigend gelöst werden können.
Es blieb allerdings – da sich die übrigen Senate des BGH ohne eine nähere Auseinandersetzung mit den Argumenten der Gegenansicht der Meinung des 8. Senats angeschlossen haben – dem Gesetzgeber überlassen, die Auswirkungen dieser Rechtsprechung durch Einführung eines neuen § 15a zu beseitigen. Hinsichtlich der Einzelheiten zur Durchführung der Anrechnung wird auf die Kommentierung zu § 15a verwiesen.
Rz. 225
Hinsichtlich der Erstattung der außergerichtlichen Geschäftsgebühr gilt Folgendes: Will der Mandant diesen Teil der anwaltlichen Vergütung vom Gegner erstattet erhalten, so muss er die (volle) Geschäftsgebühr als materiell-rechtlichen Schadensersatzanspruch im Hauptsacheverfahren einklagen oder im Mahnverfahren geltend machen,