Rz. 25
Hat der Anwalt bereits einen unbedingten Prozess- oder Verfahrensauftrag für das Rechtsmittelverfahren erhalten und rät er anschließend von der Einlegung oder Durchführung des Rechtsmittels ganz oder teilweise ab, so entsteht nur die Verfahrensgebühr des jeweiligen Rechtsmittelverfahrens, da diese Gebühr bereits mit der Entgegennahme der Information anfällt (z.B. VV Vorb. 3 Abs. 2) und sie gleichzeitig auch die Beratungstätigkeit des Anwalts über die Erfolgsaussicht des Rechtsmittels abdeckt (§ 19 Abs. 1 S. 1). Für die Anwendung der VV 2100 ist daneben kein Raum, da es an einem gesonderten Auftrag fehlt. Insoweit kann die Anm. Abs. 1 zu VV 2100 a.F. entsprechend herangezogen werden. Die Prüfung der Erfolgsaussicht darf nicht mit einer "anderen gebührenpflichtigen Tätigkeit" zusammenhängen.
Rz. 26
A.A. war das OLG Köln, das ohne Begründung den früheren § 20 Abs. 2 BRAGO, also jetzt VV 2100, auch dann anwenden wollte, wenn zunächst ein Rechtsmittel uneingeschränkt eingelegt, dann aber nach Beratung im beschränkten Umfang begründet und durchgeführt worden ist. Diese Auffassung ist mit dem Gesetz jedoch nicht zu vereinbaren. Die Vorschrift der VV 2100 ist nur dann anzuwenden, wenn nicht sogleich Rechtsmittelauftrag erteilt worden ist, sondern der Auftraggeber zunächst nur eine Beratung über die Erfolgsaussicht des beabsichtigten Rechtsmittels erteilt.
Rz. 27
Die vorzeitige Beendigung des Rechtsmittelauftrags kann in diesem Fall allerdings zur Folge haben, dass sich die Verfahrensgebühr ganz oder teilweise ermäßigt.
aa) Anwalt rät insgesamt ab – Rechtsmittel wird nicht eingelegt
Rz. 28
Erhält der Anwalt von vornherein den uneingeschränkten Rechtsmittelauftrag, rät danach vom Rechtsmittel ab und wird dieses auch nicht mehr eingelegt, dann entsteht nur die jeweilige Verfahrensgebühr, die sich gegebenenfalls wegen vorzeitiger Erledigung ermäßigt, sofern dies vorgesehen ist.
Beispiel: Der Mandant ist zur Zahlung von 20.000 EUR verurteilt worden. Der Anwalt soll prüfen, ob eine Berufung Aussicht auf Erfolg hat. Er verneint dies. Daher wird die Berufung nicht eingelegt.
Der Anwalt erhält nur die Prüfungsgebühr aus 20.000,00 EUR.
bb) Anwalt rät teilweise ab – Rechtsmittel wird sodann eingelegt und mit eingeschränktem Antrag durchgeführt
Rz. 29
Erhält der Anwalt von vornherein den uneingeschränkten Rechtsmittelauftrag und rät er danach vom Rechtsmittel teilweise ab und wird dieses dann auch nur beschränkt durchgeführt, dann ist wiederum die Verfahrensgebühr des jeweiligen Rechtsmittelverfahrens entstanden. Sofern im VV vorgesehen, ermäßigt sich die Verfahrensgebühr dann allerdings aus dem Wert, aus dem das Rechtsmittel nicht durchgeführt worden ist. Anderenfalls bleibt es mangels Ermäßigungsvorschrift bei der vollen Gebühr.
Beispiel: Der Mandant ist zur Zahlung von 20.000 EUR verurteilt worden. Der Anwalt soll prüfen, ob eine Berufung Aussicht auf Erfolg. Er bejaht die Erfolgsaussicht in Höhe von 10.000,00 EUR. In diesem Umfang wird die Berufung eingelegt und durchgeführt.
Der Anwalt erhält die Prüfungsgebühr aus 20.000 EUR und die Gebühren des Berufungsverfahrens aus 10.000 EUR. Die Prüfungsgebühr aus 10.000 EUR ist anzurechnen (Anm. zu VV 2100).
cc) Rechtsmittel wird auftragsgemäß eingelegt – Anwalt rät sodann ab – Rechtsmittel wird zurückgenommen
Rz. 30
Hatte der Anwalt von vornherein den uneingeschränkten Rechtsmittelauftrag erhalten und das Rechtsmittel auftragsgemäß uneingeschränkt eingelegt, dann ist in jedem Fall die volle Verfahrensgebühr entstanden. Selbst dann, wenn das VV eine Ermäßigung vorsieht, greift diese nicht mehr, da die Einlegung des Rechtsmittels eine Ermäßigung ausschließt. Der Gegenstandswert richtet sich in diesem Fall immer nach der vollen Beschwer (siehe Rdn 45).
Beispiel: Der Mandant ist zur Zahlung von 20.000 EUR verurteilt worden. Der Anwalt soll fristwahrend Berufung einlegen. Nach Einlegung der Berufung rät der Anwalt ab. Die Berufung wird sodann zurückgenommen.
Der Anwalt erhält keine Prüfungsgebühr, sondern vielmehr eine volle 1,6-Verfahrensgebühr aus 20.000 EUR.
dd) Rechtsmittel wird auftragsgemäß eingelegt – Anwalt rät sodann teilweise ab – Rechtsmittel wird nur eingeschränkt begründet
Rz. 31
Hatte der Anwalt von vornherein den uneingeschränkten Rechtsmittelauftrag erhalten und das Rechtsmittel auftragsgemäß uneingeschränkt eingelegt, so bleibt es auch dann bei der vollen Verfahrensgebühr, wenn vor der Begründung von der Durchführung teilweise abgeraten wird und das Rechtsmittel dann auch nur mit eingeschränktem Antrag durchgeführt wird. Wenn die vollständige Rücknahme vor Begründung die Gebühr nicht mehr reduziert, dann kann dies erst recht nicht gelten, wenn das Rechtsmittel sogar noch teilweise durchgeführt wird.
Beispiel: Der Mandant ist zur Zahlung von 20.000 EUR verurteilt worden. Der Anwalt soll fristwahrend Berufung einlegen. Nach Einlegung der Berufung rät der Anwalt in Höhe von 12.000 EUR ab. Die Berufung wird sodann nur in Höhe von 8.000 EUR durchgeführt.
Der Anwalt erhält auch hier keine Prüfungsgebühr, sondern vielmehr eine volle 1,6-Verfahrensgebühr (VV 3200) aus 8.000 EUR und eine 1,1-Verfahrensgebühr (VV 3200, 3201) aus 12.000 EUR, wobei die Begrenzung des § 15 Abs. 3 zu beachten ist. Die weiteren Gebühren (Terminsgebühr, Einigungsgebühr) entstehen nur aus 8.000 EUR.
Zwar richtet sich der Wert des gerichtlichen Verfahrens in dies...