Entscheidungsstichwort (Thema)
Anspruch auf zulassungsüberschreitende Verordnung eines Arzneimittels
Orientierungssatz
1. Die zulassungsüberschreitende Anwendung eines Arzneimittels kommt zur Behandlung einer lebensbedrohlichen Erkrankung dann in Betracht, wenn keine andere Therapie verfügbar ist und begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg erzielt werden kann.
2. Der Tumor des anaplastischen Astrozytoms ist eine lebensbedrohliche, regelmäßig tödlich verlaufende Krankheit. Das Arzneimittel Avastin ist für verschiedene Tumorerkrankungen zugelassen, nicht jedoch zur Behandlung des anaplastischen Astrozytoms. Nach der Entscheidung des BVerfG vom 26. 2. 2013 besteht Anspruch auf eine zulassungsüberschreitende Verordnung u. a. dann, wenn eine nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht (Anschluss an Beschluss BVerfG vom 26. Februar 2013, 1 BvR 2045/12).
3. Ist der Versicherte mit den zugelassenen Behandlungsmethoden austherapiert, so besteht aufgrund durchgeführter Studien eine nicht ganz fernliegende Aussicht wenigstens auf eine spürbare positive Entwicklung auf den Krankheitsverlauf eines anaplastischen Astrozytoms bei einer Therapie mittels Avastin. Infolgedessen hat der Versicherte in einem solchen Fall nach den Grundsätzen des off label use Anspruch auf Versorgung mit dem Arzneimittel Avastin.
Tenor
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 29.08.2013 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 05.12.2013 verurteilt, die Kosten des Arzneimittel Avastin® im Rahmen der seit dem 06.09.2013 durchgeführten Tumorbehandlung (in Kombination mit der Gabe von CCNU) zu übernehmen bzw. der Klägerin zu erstatten, sofern ihr Kosten für die Selbstbeschaffung des Arzneimittels entstanden sind.
Die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin trägt die Beklagte.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Übernahme der Kosten für das Arzneimittel Avastin® im Rahmen einer Tumorbehandlung.
Die am 00.00.0000 geborene Klägerin leidet an einem anaplastischen Astrozytom Grad III (nach WHO), einer lebensbedrohlichen, regelmäßig tödlich verlaufenden Krankheit. Die Diagnose wurde erstmals im März 2012 gestellt. Seitdem erhielt die Klägerin von April bis September 2012 eine Chemotherapie, im April und Mai 2013 eine kombinierte Radiochemotherapie und im August 2013 eine Strahlentherapie.
Am 12.07. und 22.08.2013 beantragte die Klägerin über die behandelnden Ärzte des Tumorzentrums am Universitätsklinikum Heidelberg sowie der Medizinischen Klinik IV des Universitätsklinikums Aachen die Übernahme der Kosten für das Arzneimittel Avastin® (Wirkstoff: Bevacizumab) in Kombination mit dem Nitrosoharnstoff CCNU (= Chlorethyl-Cyclohexyl-Nitroso-Urea) bzw. Lomustin (Arzneimittelname: Cecenu®) im Rahmen einer ambulanten Chemotherapie. Zur Begründung führten die Ärzte des Universitätsklinikums Aachen im Bericht vom 22.08.2013 aus, dass die Verlaufskontrolle nach der zuletzt durchgeführten Strahlentherapie eine deutliche Zunahme sowohl der Tumoranteile als auch des umgebenden Ödems gezeigt habe, sodass von einem realen Fortschreiten der Krankheit auszugehen sei. Aufgrund der zentralen Lage des Tumors und der Vorbestrahlung bestehe keine sinnvolle operative oder strahlentherapeutische Option mehr. Ärztlicherseits werde deshalb eine Kombinationstherapie mit CCNU und Bevacizumab befürwortet. Der Einsatz von Bevacizumab erscheine insbesondere im Hinblick auf das ausgeprägte Umgebungsödem, die bedrohliche Lage des Tumors in der Zentralregion, die geringe Ansprechwahrscheinlichkeit auf eine weitere alleinige Chemotherapie, das junge Alter der Patientin und den noch guten Allgemeinzustand sinnvoll. Das Klinikum Aachen verwies auf die Ergebnisse verschiedener Studien zum Einsatz von Avastin® bei dem vorliegenden Krankheitsbild. Zwar sei Bevacizumab (Handelsname: Avastin®) in Deutschland im Rahmen einer Kombinationstherapie aktuell nur zur Behandlung von Patienten mit fortgeschrittenem Kolon- oder Rektumkarzinom, Mammakarzinom, nicht kleinzelligen Bronchialkarzinom, Nierenzellkarzinom oder Ovarialkarzinom zugelassen; in den USA liege aber bereits eine Zulassung für die Therapie höhergradiger Gliome vor. Die Ärzte des Universitätsklinikums Aachen, durch die die ambulante Chemotherapie durchgeführt werden sollte, meinten, dass die vorliegenden klinischen Daten zum Einsatz von Bevacizumab bei Patienten mit Grad III- und Grad IV-Gliomen einen Einsatz dieses Medikaments dringend nahe legten, zumal bei der Klägerin keine vielversprechenden Alternativen zur Verfügung stünden. Unter den gegebenen Umständen seien auch die Anforderungen des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) vom 06.12.2005 erfüllt; eine wirksame und medizinisch sinnvolle Therapiealternative für die vorliegende lebensbedrohliche Erkrankung existiere bei der Klägerin nicht mehr.
In einem von der Beklagten veranlassten Gutachten kam der Mediz...