Entscheidungsstichwort (Thema)

Gesetzliche Pflegeversicherung: Erhebung eines Beitragszuschlags für Versicherte ohne eigene Kinder bei ungewollter Kinderlosigkeit

 

Orientierungssatz

Der Beitragszuschlag zur Pflegeversicherung bei Versicherten, die keine eigenen Kinder haben, ist auch dann zu zahlen, wenn die Kinderlosigkeit aus gesundheitlichen Gründen ungewollt besteht.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 30.07.2019; Aktenzeichen B 12 P 1/19 B)

 

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Streitig ist die Befreiung vom Beitragszuschlag für Kinderlose in der Pflegeversicherung.

Die 1983 geborene Klägerin war im streitigen Zeitraum bei der Beklagten gesetzlich pflegeversichert. Sie ist seit Mitte 2014 verheiratet und seit September 2017 Mutter von Zwillingen. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin beantragte am 03.06.2016 bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten den Erlass beziehungsweise die Befreiung von dem Beitragszuschlag für Kinderlose gemäß § 55 Abs. 3 Satz 1 SGB XI vorsorglich mit Wirkung ab Januar 2016. Seit diesem Zeitpunkt sei bekannt, dass die Klägerin - die Ehefrau des Prozessbevollmächtigten - keine Kinder bekommen könne. § 55 SGB XI sehe keine Regelung des Falles vor, dass die Kinderlosigkeit ungewollt bestehe. Der Beitragszuschlag erfolge nach § 55 Abs. 3 mit dem vollendeten 23. Lebensjahr. Werde ein Kind lebend geboren, so schließe dies den Beitragszuschlag dauerhaft aus. Besteht die Kinderlosigkeit unverschuldet, so sei dem Gesetz kein Befreiungstatbestand zu entnehmen. Hier liege eine krasse Ungleichbehandlung vor nach Artikel 1 Abs. 1, 2 Abs. 1, 3 Abs. 1 und 6 Abs. 1 Grundgesetz. Die Klägerin werde durch diese Regelung wirtschaftlich bestraft.

Auf diesen Antrag stellte die Beklagte mit Bescheid vom 23.08.2016 fest, dass keine Befreiung vom Beitragszuschlag für Kinderlose vorgenommen werden könne. Die Tatsache, dass gesundheitliche Gründe dem Kinderwunsch entgegenstehen, bleibe nach der aktuellen Rechtslage ohne Berücksichtigung.

Hiergegen wandte sich die Klägerin mit Widerspruch vom 24.08.2016 der mit Widerspruchsbescheid vom 07.11.2016 zurückgewiesen wurde.

Mit der Klage vom 09.11.2016 verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Es bestehe keine ausdrückliche gesetzliche Regelung dafür, wie mit einem Sachverhalt umzugehen sei, bei dem unverschuldet aufgrund biologischer Umstände der aktive Kinderwunsch nicht in die Realität umgesetzt und damit der Nachweis der Elterneigenschaft nicht geführt werden könne, um die Befreiung von dem Beitragszuschlag zu erhalten. Die weitere Erhebung des Beitragszuschlages sei rechtswidrig und sogar grob verfassungswidrig. Die gesetzliche Regelung sei unter keinem Gesichtspunkt verfassungsrechtlich gerechtfertigt.

Die Klägerin werde wegen der Unfruchtbarkeit rechtlich und wirtschaftlich benachteiligt, weil sie auf biologischem Wege keine Kinder bekommen könne. Der Gesetzgeber habe hier eine Fehlleistung erbracht, die die Klägerin in ihren Grundrechten verletze. Die Regelung sei insbesondere mit der Menschenwürde, dem Persönlichkeitsrecht, dem Gleichheitsgebot, dem Schutz von Ehe und Familie sowie dem Sozialstaats- und Rechtsstaatlichkeitsgebot nicht in Einklang zu bringen. Die Klägerin sei gezwungen gewesen, den Weg über die künstliche Befruchtung zu gehen. Zwar hätte auch die Möglichkeit der Adoption bestanden, doch habe der Gesetzgeber nicht das Recht ihr dies vorzuschreiben. Eine Ungleichbehandlung liege auch nach Artikel 3 Abs. 3 Grundgesetz vor. Die Klägerin sei schwerbehindert nach § 2 SGB IX. Sie leide an einer Sterilität als Behinderungsleiden. Niemand dürfe jedoch wegen der Behinderung benachteiligt werden. Außerdem werde durch § 55 Abs. 3 SGB XI das Grundrecht auf Ehe und Familie verletzt.

Aufgrund der Zwillingsgeburt wurde der streitige Zeitraum durch den Prozessbevollmächtigten der Klägerin begrenzt. Eine höchstrichterliche Entscheidung zum Parallelverfahren des Ehemannes sollte nicht abgewartet werden. Die Klägerin beantragt,

1. Der Bescheid der Beklagten vom 23.08.2016, in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.11.2016, wird aufgehoben.

2. Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin vom Beitragszuschlag für Kinderlose in Höhe von 0,25 Beitragssatzpunkten in der gesetzlichen Pflegeversicherung für den Zeitraum vom 01.01.2016 bis 31.08.2017 zu befreien.

3. Hilfsweise wird beantragt: Die Beklagte wird verurteilt die Klägerin von dem Beitragszuschlag für Kinderlose in Höhe von 0,25 Beitragssatzpunkten in der gesetzlichen Pflegeversicherung für den Zeitraum vom 03.06.2016 bis zum 31.08.2017 zu befreien.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte verweist im Wesentlichen auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid. Für die gesetzliche Zuschlagspflicht sei nicht relevant, warum das Mitglied keine Kinder hat. Die Klägerin sei Mitglied der Beklagten und habe keine eigenen Kinder, noch Stief- oder Pflegekinder. Ein Erlass beziehungsweise eine Befreiung von dem Beitragszuschlag könne daher nicht erfo...

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