Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. Sekundäropfer. Schütteln eines Babys durch den Vater. Schütteltrauma des Kindes. Notoperation. Schockschaden der Mutter durch spätere Untersuchung und Auswertung der Tat vor Gericht. Unmittelbarkeitszusammenhang. keine zeitliche Nähe bei Kenntniserlangung später als ein Jahr nach der Tat. posttraumatische Belastungsstörung. allmähliches Erkennen der Gewalttat und deren Ausmaßes. kein traumatisierendes Ereignis

 

Leitsatz (amtlich)

Nähe zum Schädigungstatbestand bei Sekundäropfern in Benachrichtigungsfällen nach dem Opferentschädigungsgesetz (juris: OEG)

Erfährt das Sekundäropfer erst ein Jahr nach der Wahrnehmung der unmittelbaren Folgen, dass der Gesundheitsschaden durch eine Gewalttat ausgelöst war, fehlt es an der erforderlichen zeitlichen Nähe zum Tatgeschehen.

Ein allmähliches Erkennen der Gewalttat ist in der Regel kein belastendes Ereignis mit katastrophenartigem Ausmaß im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur posttraumatischen Belastungsstörung (BSG vom 12.6.2003 - B 9 VG 1/02 R = BSGE 91, 107 = SozR 4-3800 § 1 Nr 3 RdNr 22).

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 25.09.2017; Aktenzeichen B 9 V 30/17 B)

 

Tenor

I. Die Klage gegen den Bescheid vom 07. März 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Mai 2012 wird abgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetzes (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) über den 30.06.2011 hinaus.

Die Klägerin ist die Mutter eines am 2010 geborenen Kindes. Nach den Feststellungen im nicht rechtskräftigen Strafurteil des Amtsgerichts B. vom 07.12.2011 war der Vater des Kindes und damaliger Ehemann der Klägerin am 30.11.2010 mit dem Kind allein zuhause. Der Ehemann schüttelte das Kind gegen 14:45 Uhr, ohne die Halswirbelsäule des Kindes zu schützen. Dadurch kam es zu einem massiven Psychotrauma mit Abriss der Brückenvenen. Dies führte bei dem Kind zu einem Subduralhämatom. Es musste eine Notoperation am Schädel des lebensgefährlich verletzten Kindes durchgeführt werden.

Die Klägerin wurde von ihrem früheren Ehemann auf der Arbeit angerufen. Er teilte der Klägerin mit, dass das Kind in der Küche von der Arbeitsplatte gefallen sei. Eine Woche später habe ihr Mann dann berichtet, dass er das Kind auf dem Arm gehabt und den Kopf nach rechts gedreht habe. Dabei sei der Kopf nach hinten weggekippt. Im Scheidungsverfahren habe der Täter angegeben, dass das Kind aus dem Bett gefallen sei. Erst im Verhandlungstermin am 07.12.2011 habe sie durch die Einlassung des Sachverständigen erfahren, dass ein starkes Schütteln für die Verletzungen ursächlich war. Mit vorläufigem Bescheid des Zentrum Bayern Familie und Soziales vom 24.10.2012 wurde das Kind der Klägerin als Opfer einer Gewalttat anerkannt. Bei ihm wurden eine

* Allgemeine Entwicklungsverzögerung, Hirnschädigung, Anfallsleiden mit antikonvulsiver Einstellung, cerebral bedingte Lähmung und Sehbehinderung

als Schädigungsfolgen anerkannt, der Grad der Schädigungsfolgen vorläufig mit 100 festgestellt.

Ebenfalls nach den Feststellungen des Strafurteils habe der Ehemann der Klägerin am 15.06.2011 die Klägerin und ihren Sohn in der Familienhilfeeinrichtung der G-Stiftung K. abgeholt. Infolge eines Streits zwischen den Eheleuten beleidigte der Täter die Klägerin und schlug ihr mit der Faust gegen die Stirn. Im weiteren Verlauf der Fahrt zog der Täter im Bereich der Anschlussstelle B./H. auf dem Verzögerungsstreifen die Handbremse, so dass das Auto nach rechts in Richtung des Banketts ausbrach und beinahe mit einem Leitpfosten zusammenstieß, ohne dass es zu einem Unfall kam. Im weiteren Verlauf drohte der Täter damit, dass er jetzt alle umbringe. Auf der Bundesstraße zwischen H. und B. zog er mehrfach sein Auto in den entgegenkommenden Verkehr und scherte erst kurz vor einem zu erwartenden Zusammenstoß wieder ein.

Am 05.10.2011 stellte die Klägerin einen Antrag auf Opferentschädigung. Mit Bescheid vom 07.03.2012 wurde festgestellt, dass in Folge der Tat von 15.06.2011 längstens bis 30.06.2011 infolge einer Schädigung im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG die Gesundheitsstörung Kopfschmerzen vorgelegen hat. Ein Anspruch auf Heilbehandlung für die mittlerweile abgeheilte Gesundheitsstörung bestehe nicht. Die Zahlung einer Versorgungsrente werde durch die vorübergehende Gesundheitsstörung nicht begründet. Eine posttraumatische Belastungsstörung als Folge eines Schockschadens werde nicht als Schädigungsfolge anerkannt. Die Klägerin sei kein unmittelbarer Tatzeuge gewesen. Die Klägerin habe erst später erfahren, dass der Ehemann und Vater der Täter gewesen sei. Dieser Umstand stelle aber keine Gewalttat dar, da die Tätereigenschaft keinen tätlichen Angriff darstelle.

Auf den Widerspruch der Klägerin wurde im angefochtenen Widerspruchsbescheid vom 21.05.2012 auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts im Urteil vom 12.06.2003 verwiesen. Bei Sekundäropfern komm...

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