Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Kostenerstattung. Bartepilation durch hinreichend qualifizierten nichtärztlichen Behandler bei Mann-zu-Frau-Transsexualismus. Systemversagen
Leitsatz (amtlich)
1. Die Krankenkasse hat die durch die Behandlung eines hinreichend qualifizierten nichtärztlichen Behandlers entstehenden Kosten für bei vorliegendem Mann-zu-Frau-Transsexualismus erforderliche Bartepilationsbehandlungen durch Nadelepilation zu tragen, wenn kein Arzt/keine Ärztin gefunden werden kann, der/die zu einer entsprechenden Behandlung bereit wäre.
2. In einem solchen Fall liegt ein Systemversagen vor, das dazu führt, dass die Behandlung - trotz Arztvorbehalt - auch von einem nichtärztlichen Behandler, der die Gewähr für eine mindestens gleichwertige Versorgung bietet, auf Kosten der Krankenkasse durchgeführt werden kann, weil bei der Bartepilation durch Nadelepilation weder diagnostischen Schwierigkeiten bestehen noch die Behandlung selbst nennenswerte gesundheitsgefährdende Komplikationsrisiken in sich birgt.
Tenor
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 19. Oktober 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. September 2013 verurteilt, der Klägerin einen Betrag von 2528 EUR sowie weitere, in Zukunft durch Nadelepilationsbehandlung zur Entfernung der Barthaare durch eine entsprechend qualifizierte Kosmetikerin/einen entsprechend qualifizierten Kosmetiker (z.B. Frau B.) entstehende Kosten zu erstatten.
Die Beklagte erstattet der Klägerin ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über einen Anspruch der Klägerin auf Erstattung von Kosten für Nadelepilationsbehandlungen zur Entfernung von Barthaaren durch eine Kosmetikerin in Höhe von insgesamt 2528 EUR sowie den Anspruch auf Erstattung solcher in Zukunft noch entstehenden Kosten.
Bei der Klägerin liegt eine Mann-zu-Frau-Transsexualität vor. Seit Juli 2012 ist die Vornamens- und Personenstandsänderung rechtskräftig.
Im August 2012 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Übernahme der Kosten für geschlechtsangleichende Operationen sowie für Nadelepilationsbehandlungen. Sie fügte dem Antrag unter anderem einen Kostenvoranschlag einer Elektrologistin und Heilpraktikerin (Frau B.) bezüglich durchzuführender Nadelepilationsbehandlungen bei.
Die Beklagte lehnte den Antrag auf Kostenübernahme von Nadelepilationsbehandlungen mit Bescheid vom 19. Oktober 2012 ab. Die Epilation durch Elektrokoagulation im Gesicht und an den Händen bei krankhaftem und entstellendem Haarwuchs falle in den Bereich der vertragsärztlichen Versorgung und könne somit generell vom Kassenarzt erbracht werden. Die kassenärztliche Vereinigung sei grundsätzlich für die Sicherstellung der ärztlichen Behandlung und somit für die Verfügbarkeit von Behandlungsmöglichkeiten zuständig. Sie fügte eine Übersicht von Ärzten bei, die nach Angaben der zuständigen kassenärztlichen Vereinigungen Berlin in der Lage seien, die Epilation über die Versicherungskarte abzurechnen. In Berlin stehe hierfür konkret Herr B. B., G.Str. zur Verfügung.
Mit Schreiben vom 2. Dezember 2012 wandte sich die Klägerin erneut an die Beklagte und nahm Bezug auf den Bescheid vom 19. Oktober 2012. Sie teilte mit, dass sie den empfohlenen Arzt, Herrn B., inzwischen kontaktiert habe. Sie habe erfahren, dass dieser keine Termine vergeben, die entsprechende Behandlung max. 5 min pro Woche durchführe und der Abrechnungssatz für 5 min bei 8,75 EUR liege. Sie habe zudem von einer Bekannten erfahren, dass diese das Ergebnis der Behandlung durch Herrn B. nicht als zufriedenstellend empfunden habe, weil Narben entstanden sein. Es sei eine Zumutung, dass keine Termine vergeben würden, weil dadurch lange Wartezeiten für eine im Verhältnis gesehen sehr kurze Behandlungszeit entstehen würden. Die Kosmetikerin veranschlage eine Behandlungsdauer von ca. 250 h im Verlauf von 3-4 Jahren mit einer wöchentlichen Behandlungszeit von 180-300 min. Herr B. biete lediglich 5 Minuten wöchentlich an. Dies würde einer Behandlungszeit von 60 Jahren entsprechend. Dies sei ihr nicht zuzumuten. Bei einer solchen Form der Behandlung würden für die Beklagte höhere Kosten anfallen, hinzu kämen noch Kosten für eine psychologische Betreuung, da der aktuell bestehende Leidensdruck dann über die gesamte restliche Lebensspanne der Klägerin andauern würde. Sie beantrage daher eine Einzelfallentscheidung wegen Systemversagens.
Mit Schreiben vom 20. Dezember 2012 wertete die Beklagte das Schreiben der Klägerin vom 2. Dezember 2012 als Widerspruch gegen die Ablehnung vom 19. Oktober 2012. Sie teilte mit, dass geklärt werden solle, ob alle rechtlichen Möglichkeiten zu Gunsten der Klägerin ausgeschöpft worden seien. Die Beklagte gab bei dem medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) ein sozialmedizinisches Gutachten in Auftrag. Dieses wurde am 25. Januar 2013 nach Aktenlage erstellt. Begutachtet wurde die Kostenübernahme für geschlechtsangleichende Maßnahmen insgesamt, das heißt inklusive geschlechtsangl...