Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialrechtliches Kindergeld. Anspruch auf Kindergeld für sich selbst. fehlende Kenntnis vom Aufenthaltsort der Eltern. keine missbräuchliche Unkenntnis bei fehlender Erreichbarkeit der Eltern

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der Ausschluss des Anspruchs auf Kindergeld an das Kind selbst setzt eine nach subjektiven Maßstäben des Kindes zu beurteilende positive Kenntnis in Bezug auf den Aufenthaltsort der Eltern voraus.

2. § 1 Abs 2 S 1 Nr 2 BKGG 1996 beinhaltet keinen Verschuldensgrad, bei dessen Vorliegen positive Kenntnis unterstellt werden kann; allenfalls ist eine Gleichstellung von positiver Kenntnis und missbräuchlicher Unkenntnis zu erwägen.

3. Eine missbräuchliche Unkenntnis vom Aufenthaltsort der Eltern liegt nicht vor, wenn eine Vermutung des geflüchteten Kindes über den Aufenthaltsort der Eltern besteht, diese aber für das Kind nicht mehr erreichbar sind.

 

Tenor

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 04.06.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.07.2019 verurteilt, der Klägerin Kindergeld nach dem BKGG in gesetzlicher Höhe für den Zeitraum April 2019 bis Juli 2020 zu gewähren.

Die Beklagte trägt die notwendigen Kosten der Klägerin.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Zahlung von Kindergeld nach dem Bundeskindergeldgesetz (BKGG) für sich selbst.

Die Klägerin ist am 00.00.0000 in E im Niger geboren und war bis Ende 2019 nigrische Staatsangehörige. Sie floh im Jahr 2011 aufgrund drohender Zwangsheirat und Beschneidung sowie der Gewalttätigkeit ihres Vaters und reiste als minderjähriger unbegleiteter Flüchtling am 24.09.2011 in das Bundesgebiet ein. Im Dezember 2011 stellte sie über ihren damaligen Vormund des Jugendamtes eine Suchanfrage beim Deutschen Roten Kreuz für ihre Mutter und wies darauf hin, dass ihre Mutter nach der Auseinandersetzung mit dem Vater bei ihrem Onkel untergekommen sei und ihr Vater Imam in E sei.

Am 28.11.2012 stellte die Klägerin einen Asylantrag. Mit Bescheid vom 09.05.2014 erfolgte die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft der Klägerin. Ein beigefügtes Merkblatt enthielt den Hinweis, dass bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen unter anderem ein Anspruch auf Kindergeld nach § 1 Abs. 3 Nr. 2 BKGG bestünde. Die Klägerin erhielt zunächst eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) mit gestatteter Erwerbstätigkeit, seit dem 20.12.2019 hat sie die deutsche Staatsangehörigkeit.

Die Klägerin beantragte im September 2014 erstmals Kindergeld nach dem BKGG für sich selbst bei der Beklagten, woraufhin die Beklagte ihr fortlaufend Kindergeld bewilligte.

Nach Erwerb der allgemeinen Hochschulreife im Juni 2018 teilte die Klägerin im August 2018 den Beginn eines dualen Studiums an der Hochschule für Gesundheit in C in Kooperation mit der Caritas-Altenhilfe E2 GmbH mit. Die Beklagte forderte daraufhin unter anderem einen Weiterzahlungsantrag sowie den Fragebogen zum Aufenthalt der Eltern an.

Die Klägerin führte im Fragebogen aus, dass sie ihre Eltern 2011 in Afrika zurückgelassen habe aufgrund von Problemen mit ihrem Vater. Sie sei asylberechtigt in Deutschland. Als Anschriften der Eltern teilte sie O im Niger mit, als letzten Kontakt gab sie persönlichen Kontakt im Juni 2011 an.

Nach Erhalt der Unterlagen bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 26.09.2018 Kindergeld für den Zeitraum August 2018 bis März 2019.

Im März 2019 übersandte die Klägerin die Studienbescheinigung für März 2019 bis einschließlich August 2019. Die Beklagte forderte weitere Unterlagen an, unter anderem den Fragebogen zum Aufenthalt der Eltern. In dem Fragebogen gab die Klägerin an, dass ein Aufgebotsverfahren zum Zwecke der Todeserklärung oder ein Aufgebot nach dem Verschollenheitsgesetz nicht beantragt worden seien. Es sei keine Behörde zur Feststellung des Aufenthalts eingeschaltet worden. Den Aufenthaltsort der Eltern kenne sie nicht. Die Familiensituation habe sich schwierig gestaltet, ihr Vater sei sehr gewalttätig gewesen, daher sei sie in Deutschland asylberechtigt. Im Übrigen entsprachen die Angaben dem vorherigen Fragebogen.

Mit Bescheid vom 04.06.2019 lehnte die Beklagte den Antrag auf Kindergeld ab April 2019 ab. Anspruch auf Kindergeld habe nach Maßgabe des § 1 Abs. 2 BKGG, wer 1. im Geltungsbereich dieses Gesetzes seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt habe, 2. Vollwaise sei oder den Aufenthalt seiner Eltern nicht kenne und 3. nicht bei einer anderen Person als Kind zu berücksichtigen sei. Die Klägerin habe keine Bemühungen nachgewiesen, den Aufenthalt der Eltern zu ermitteln.

Die Klägerin erhob mit Schreiben vom 11.06.2019 Widerspruch gegen den Bescheid vom 04.06.2019. Sie wohne seit November 2011 ohne ihre Eltern in Deutschland, ihr sei die Flüchtlingseigenschaft anerkannt worden. Der Aufenthalt der Eltern sei unbekannt, sie lebe allein in E2, habe ihre eigene Wohnung und studiere Pflege. Sie habe immer Kindergeld erhalten, laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge habe sie auch ein Recht auf dieses.

Die Beklagte bat um einen Nac...

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