Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. abschließende Entscheidung nach vorläufiger Bewilligung. Erstattung überzahlter Leistungen. Übergangsregelung des § 67 Abs 4 SGB 2. abschließende Entscheidung nur auf Antrag des Leistungsberechtigten. Anwendbarkeit der Vorschrift trotz Erlass des Bewilligungsbescheides vor ihrem Inkrafttreten und auch auf Altfälle. Rücknahme nach § 45 SGB 10. anfängliche Rechtswidrigkeit. zutreffende Prognose im Zeitpunkt des Bescheiderlasses. Aufhebung nach § 48 SGB 10. Erzielung von Einkommen nach Erlass des Bescheides. Änderung der gleichen tatsächlichen Verhältnisse, die die Vorläufigkeit begründet haben. Aufhebungsentscheidung nach Ablauf des Bewilligungszeitraums
Leitsatz (amtlich)
1. Für Bewilligungszeiträume über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende (Arbeitslosengeld II bzw Sozialgeld), die in der Zeit ab dem 1.3.2020 begannen, wird nach § 67 Abs 1, Abs 4 SGB II im Falle der vorläufigen Leistungsbewilligung nach § 41a SGB II abweichend von § 41a Abs 3 SGB II nur auf Antrag der Leistungsbezieher abschließend über den monatlichen Leistungsanspruch entschieden. Für die Leistungsbezieher besteht also Wahlfreiheit, es entweder bei der vorläufigen Leistungsbewilligung bewenden zu lassen, oder eine endgültige Bewilligung zu beantragen.
2. Diese Regelung ist auch anzuwenden, wenn der Bewilligungsbescheid vor dem Inkrafttreten des Gesetzes für den erleichterten Zugang zu sozialer Sicherung und zum Einsatz und zur Absicherung sozialer Dienstleister aufgrund des Coronavirus SARS-CoV-2 (Sozialschutz-Paket) vom 27.3.2020 erlassen wurde, soweit er sich auf Leistungszeiträume ab dem 1.3.2020 bezieht.
3. Diese Regelung ist sowohl auf einen bereits vor dem 1.3.2020 begonnenen Leistungsbezug nach dem SGB II als auch auf "Neufälle" anwendbar.
4. Die anfängliche Rechtswidrigkeit des Bescheids im Sinne des § 45 SGB X ist ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal der Vorschrift. Bei Prognoseentscheidungen kommt es für die Bestimmung anfänglicher Rechtswidrigkeit im Sinne des § 45 SGB X aber nicht auf die sich später herausstellende tatsächliche Sachlage an, sondern lediglich darauf, ob die Prognose selbst zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses zutreffend war.
5. Ob eine solche Prognose - wie die nach § 41a SGB II zu treffende Prognose des erwartbaren Einkommens - korrekt oder zumindest vertretbar ist, kann unter Heranziehung der Fallgruppen des § 45 Abs 2 S 3 Nr 1 bis 3 SGB X beurteilt werden.
6. § 48 SGB X kann - unter der Geltung des § 67 Abs 4 SGB II - zumindest dann nicht für eine nachträgliche Korrektur einer vorläufigen Leistungsbewilligung nach § 41a SGB II herangezogen werden, wenn eine Änderung in den gleichen tatsächlichen Verhältnissen eingetreten ist, die bereits die Vorläufigkeit der Leistungsbewilligung ausgelöst haben (hier: prognostiziertes künftiges Erwerbseinkommen aus selbständiger Tätigkeit), wenn die Aufhebungsentscheidung erst nach Ende des Bewilligungsabschnitts erfolgt. Andernfalls würde das Wahlrecht des Leistungsbeziehers aus § 67 Abs 1, Abs 4 SGB II unterlaufen.
Tenor
1. Der Bescheid des Beklagten vom 11.3.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 9.6.2021 wird aufgehoben.
2. Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Kläger zu 1. - 5. dem Grunde nach.
Tatbestand
Die Klage wendet sich gegen eine Aufhebungs- und Erstattungsentscheidung des Beklagten hinsichtlich laufender Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für den Zeitraum vom 1.4. - 30.9.2020.
Die Kläger - ein Ehepaar sowie ihre drei minderjährigen Kinder, wohnhaft in E. - bestritten seit September 2019 ihren Lebensunterhalt von den Einkünften aus der selbständigen Tätigkeit des Klägers zu 2. als Gebrauchtwagenhändler, von Kindergeld sowie ergänzend von Arbeitslosengeld II bzw. Sozialgeld nach dem SGB II vom Beklagten. Diese Leistungen waren ihnen im Hinblick auf das schwankende bzw. schwer zu prognostizierende Einkommen des Klägers zu 2. durch Bescheid vom 5.9.2019 nach § 41a SGB II vorläufig bewilligt worden.
Im März 2020 kam es aufgrund von Verordnungen der baden-württembergischen Landesregierung wegen der COVID-19-Pandemie zu weitreichenden Kontaktbeschränkungen und sonstigen Infektionsschutzmaßnahmen, die auch auf das Geschäftsleben Auswirkungen hatten. Die Verordnung der Landesregierung Baden-Württemberg über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-Cov-2 (CoronaVO-BW) ordnete in der ab dem 18.3.2020 geltenden Fassung etwa an, dass der Aufenthalt im öffentlichen Raum nur alleine, mit einer weiteren nicht im Haushalt lebenden Person oder im Kreis der Angehörigen des eigenen Haushalts gestattet, zu anderen Personen im öffentlichen Raum in Mindestabstand von 1,5 Metern einzuhalten sowie an bestimmten Orten, darunter in Ladengeschäften, eine Maske oder vergleichbare Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen oder aber entsprechender baulicher Schutz zu errichten sei (§ 3 CoronaVO-BW vom 18.3.2020)...