Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss bei Unterbringung in Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung. Abgrenzung des Jugendarrestes als Zuchtmittel
Leitsatz (amtlich)
Jugendarrest nach § 16 Jugendgerichtsgesetz (JGG) ist keine richterlich angeordnete Freiheitsentziehung iS des § 7 Abs 4 S 2 SGB 2.
Orientierungssatz
Az beim LSG Darmstadt: L 9 AS 162/10.
Tenor
Der Bescheid der Beklagten vom 7. Juli 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Juli 2009 wird aufgehoben.
Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger wendet sich gegen die Aufhebung und Rückforderung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch - Zweites Buch (SGB II) für die Zeit der Ableistung eines Jugendarrests.
Der 1986 geborene Kläger steht seit Juli 2007 im Leistungsbezug der Beklagten nach dem SGB II.
Vom 17. Juni bis 1. Juli 2009 befand sich der Kläger in der Jugendarrestanstalt D-Stadt zur Verbüßung eines Jugendarrests.
Mit Bescheid vom 7. Juli 2009 hob die Beklagte die bewilligten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für den Zeitraum vom 17. Juni bis 1. Juli 2009 auf und forderte vom Kläger einen Betrag von 330,38 EUR zurück.
Hiergegen hat der Kläger am 11. Juli 2009 Widerspruch eingelegt, der mit Widerspruchsbescheid vom 29. Juli 2009 zurückgewiesen wurde. Gegen den Widerspruchsbescheid hat der Kläger am 26. August 2009 Klage beim Sozialgericht Gießen erhoben.
Der Kläger ist im Wesentlichen der Auffassung, der Jugendarrest sei nach § 13 Abs. 2 Nr. 3 Jugendgerichtsgesetz (JGG) keine Strafe, sondern lediglich ein Zuchtmittel. Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 4 SGB II betreffe ihn daher nicht.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 7. Juli 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29. Juli 2009 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte ist der Auffassung, der vom Kläger abgeleistete Jugendarrest in Form des Dauerarrestes sei eine richterlich angeordnete Freiheitsstrafe im Sinne des § 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II. Der Kläger sei daher für die Dauer des Jugendarrestes von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen gewesen. Die bewilligten Leistungen seien daher aufzuheben und die Überzahlung zurückzufordern.
Das Gericht hat am 1. Februar 2010 einen Erörterungstermin abgehalten, in dem die Beteiligten einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt haben, § 124 Abs. 2 SGG.
Wegen des Sach- und Streitstandes im Einzelnen wird auf den Inhalt der Gerichts- und der Beklagtenakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig und begründet.
Die Aufhebung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II des Klägers für den Zeitraum vom 17. Juni bis 1. Juli 2009 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
Die Beklagte kann die Aufhebung der bewilligten Leistungen nicht auf § 48 SGB X stützen, da die Bewilligung der Leistungen an den Kläger bereits nicht rechtswidrig, sondern rechtmäßig war. Insbesondere war der Kläger im Zeitraum der Ableistung des Jugendarrestes nicht nach § 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II vom Erhalt von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen.
Der Kläger war im streitgegenständlichen Zeitraum ein erwerbsfähiger Hilfebedürftiger im Sinne des § 7 Abs. 1 SGB II, da er das 15. Lebensjahr bereits vollendet hatte, seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland hatte, erwerbsfähig und hilfebedürftig war. Nach § 19 Satz 1 SGB II erhielt er als erwerbsfähiger Hilfebedürftiger als Arbeitslosengeld II Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich der angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung.
Nach § 7 Abs. 4 SGB II erhält jedoch Leistungen nach dem SGB II nicht, wer in einer stationären Einrichtung untergebracht ist, Rente wegen Alters oder Knappschaftsausgleichsleistung oder ähnliche Leistungen öffentlich-rechtlicher Art bezieht (Satz 1). Dem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung ist der Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung gleichgestellt (Satz 2).
Jugendarrest nach § 16 JGG ist keine richterlich angeordnete Freiheitsentziehung im Sinne des § 7 Abs. 4 Satz 2 SGG.
Die Systematik des JGG unterscheidet als Folge einer Jugendstraftat nach Erziehungsmaßregeln, Zuchtmitteln und der Jugendstrafe. Dabei können nach § 5 JGG aus Anlass der Straftat eines Jugendlichen Erziehungsmaßregeln angeordnet werden. Wenn Erziehungsmaßregeln nicht ausreichen wird die Straftat eines Jugendlichen mit Zuchtmitteln oder mit Jugendstrafe geahndet. Das JGG sieht somit ein abgestuftes System von Ahndungen einer Tat mit steigender Intensität des Eingriffs vor.
Nach § 13 Abs. 1 JGG ahndet der Richter eine Straftat mit Zuchtmitteln, wenn Jugendstrafe nicht geboten ist, dem Jugendlichen aber eindringlich zum Bewusstsein gebracht werden muss, dass er für das von ihm begangene Unrecht einzustehen hat (Abs. 1...