Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht. Mehrfachanrechnung. Rückwirkung. Berechnung der Pflichtarbeitsplätze

 

Orientierungssatz

1. Zur Möglichkeit einer "rückwirkenden" Mehrfachanrechnung eines Schwerbehinderten auf mehrere Arbeitsplätze iS von § 10 SchwbG.

2. Arbeitnehmer, die in der Zeit vom 1.7.1990 bis 31.12.1991 Kurzarbeit Null gemäß § 63 Abs 5 AFG-DDR geleistet haben, sind bei der Berechnung der Pflichtarbeitsplätze nicht mitzuzählen (im Anschluß an OVG Weimar, Urteil vom 27.6.1995 - 2 KO 11/94).

 

Tatbestand

Streitig ist die Anzahl der in den Jahren 1990 und 1991 auf die Klägerin entfallenden Pflichtarbeitsplätze nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG).

Der Klägerin, einer in der optischen Industrie tätigen Gesellschaft mit beschränkter Haftung, gehörten in der Zeit vom 1. Juli 1990 bis zum 31. Dezember 1991, in den einzelnen Monaten schwankend, zwischen zwei und fünf Geschäftsführer bzw. leitende Angestellte sowie zwischen 36 und 42 übrige Arbeitnehmer an.

Von Januar 1991 bis Dezember 1991 befanden sich mit Ausnahme des Monats Februar 1991 Arbeitnehmer, deren Anzahl sich zwischen 2 und 22 bewegte, in Kurzarbeit "0" gemäß § 63 Abs. 5 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) der DDR. Wegen der auf die einzelnen Monate entfallenden Zahl der Beschäftigten bzw. in Kurzarbeit befindlichen Arbeitnehmer wird auf den Inhalt der Leistungsakte der Beklagten Bezug genommen.

Bis einschließlich Juli 1991 beschäftigte die Klägerin zwei Schwerbehinderte. Nach dem Ausscheiden einer der beiden Beschäftigten verblieb die Arbeitnehmerin … bis über den streitigen Zeitraum hinaus im Unternehmen der Klägerin. Frau … ist gehörlos und stark sprachbehindert. Ihr anerkannter Grad der Behinderung beträgt 100. Sie ist als Teilerin bzw. Poliererin bei der Fertigung von Blutzählkammern tätig. Die von ihr bediente Teilmaschine muß bei Sortimentswechsel, der teilweise täglich zu erfolgen hat, neu eingerichtet werden. Bei diesem Vorgang ist die Anleitung durch eine Betreuungsperson erforderlich.

Nach telefonischer Vorabmeldung am 18. November 1991 ging am 27. November 1991 bei der Beklagten die Anzeige der Klägerin nach § 13 Abs. 2 SchwbG für das Jahr 1990 ein. In dem der Anzeige anliegenden Verzeichnis gemäß § 13 Abs. 1 SchwbG bezeichnete die Klägerin die Arbeitnehmerin … als "Schwerstbeschädigte".

Mit Bescheiden vom 20. April 1994 stellte die Beklagte die Arbeits- und Pflichtplätze nach § 13 Abs. 2 SchwbG fest. Die Zahl der Pflichtplätze betrug danach von Juli bis Dezember 1990 drei und von Januar bis Dezember 1991 zwei.

In ihrem gegen diesen Bescheid gerichteten Widerspruch vertrat die Klägerin die Ansicht, die Beklagte habe ihren Feststellungen eine zu hohe Beschäftigtenzahl zugrundegelegt, indem sie die Angestellten der Gesellschaft bürgerlichen Rechts eines der Geschäftsführer der Klägerin, der … GbR, hinzugerechnet habe. Außerdem seien die in Kurzarbeit "0" befindlichen Arbeitnehmer nicht abgezogen worden. Weil das Arbeitsamt darüber informiert gewesen sei, daß bei der Klägerin eine "Schwerstbehinderte" tätig sei, habe sich ein Informationsbedürfnis ergeben, dem die Beklagte nicht nachgekommen sei. Daher müsse dem Antrag auf Mehrfachanrechnung des Arbeitsplatzes der Arbeitnehmerin … stattgegeben werden.

Mit Bescheid vom 23. März 1995 gab die Beklagte dem Antrag der Klägerin auf Anrechnung des Arbeitsplatzes der Schwerbehinderten … auf zwei Pflichtplätze statt und lehnte den darüber hinausgehenden Antrag (Anrechnung auf drei Pflichtplätze) ab. Die Zweifachanrechnung gelte ab 18. November 1991. Eine Dreifachanrechnung komme nicht in Betracht, weil allein die Art und Schwere der Behinderung von Frau … sowie der Umstand, daß Frau … die Norm nicht erfülle und eine erhöhte Fehlerquote bei der Arbeit am Automaten aufweise, eine Anrechnung auf drei Pflichtplätze nicht rechtfertige.

Mit Widerspruchsbescheid vom 17. Juli 1995 traf die Beklagte auf den Widerspruch der Klägerin gegen die Feststellungsbescheide vom 20. April 1994 folgende Entscheidung:

1. Dem Antrag zur Reduzierung der in den Anzeigen 1990 und 1991 ausgewiesenen Arbeitsplätze durch Herausrechnen der Stellen der … GbR und der leitenden Angestellten wird teilweise stattgegeben.

2. Der Antrag zur Reduzierung der in den Anzeigen 1990 und 1991 ausgewiesenen Arbeitsplätze um die Plätze, auf denen gem. § 63 Abs. 5 AFG-DDR Kurzarbeit verrichtet wurde, wird als unbegründet zurückgewiesen.

3. Dem Antrag auf Mehrfachanrechnung wegen des Vorliegens eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs wurde mit dem in das Widerspruchsverfahren einbezogenen Bescheid des Arbeitsamtes Jena vom 23. März 1995 stattgegeben.

4. Der Antrag auf rückwirkende Zulassung einer Mehrfachanrechnung ab 1. Juli 1990 wird als unbegründet zurückgewiesen.

5. Über die Zulassung einer Dreifachanrechnung anstelle der bewilligten Zulassung der Zweifachanrechnung ist vom Arbeitsamt … im Ergebnis einer erneuten Betriebsprüfung zu entscheiden, wobei der Feststellungsbescheid Gegenstand des damit abgeschlossenen Widerspruchsve...

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