Leitsatz (amtlich)
1. Zur medizinischen Prüfung und juristischen Feststellung einer posttraumatischen Belastungsstörung als Unfallfolge.
2. Der erforderliche „zeitnahe“ Gesundheits-erst-schaden kann auch und gerade durch das Beweismittel des medizinischen Sachverständigen - nachträglich - festgestellt werden (vgl. LSG Bayern, Urteil vom 22.11.2018 - L 2 U 18/16, BeckRS 2018, 36950 mit Anmerkung Bultmann - Fachdienst Sozialversicherungsrecht 2019, 414839, beck-online).
3. Für die Feststellung und Anerkennung eines Arbeitsunfalles ist es, wie in Fällen der vorliegenden Art, nicht entscheidend oder erforderlich, den ganz exakten Zeitpunkt (das genaue Datum/die Uhrzeit) der schädigenden Einwirkung (Unfallereignis) festzustellen, wenn zumindest im Vollbeweis feststeht, dass innerhalb einer zeitlich begrenzten Einheit („Arbeitsschicht“) geeignete Ereignisse psychisch auf den Körper, genauer auf die Seele eines Versicherten einwirkten, die zu einem seelischen Gesundheits-erst-schaden geführt haben. Welches konkrete Einzelereignis den seelischen Gesundheitsschaden tatsächlich gesetzt bzw. verursacht hat, muss nicht weiter festgestellt werden.
4. Der SRSI-Test ist zur „Beschwerdevalidierung“ regelmäßig ungeeignet, denn dieser Test stellt ausschließlich auf die persönlichen Angaben ab vgl auch LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 07.09.2022 (Az.: L 2 R 235/21 in Beck-online). Es mangelt insoweit an objektiven medizinischen Tatsachen (Befunden).
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Feststellung von Unfallfolgen und die Gewährung einer Verletztenrente aufgrund des Arbeitsunfalles der Klägerin vom 25.3.2015.
Die 1985 geborene Klägerin war bei der L. als Flugbegleiterin beschäftigt und wohnte in L1.
Nach dem Absturz des G.-Flugzeuges in den f. Alpen am 24.3.2015 wurde die Klägerin von ihrem Arbeitgeber (L.) als Mitglied eines Kriseninterventionsteams eingesetzt und sollte die Hinterbliebenen der verstorbenen Passagiere in einem Ort in der Nähe der Absturzstelle begleiten und betreuen. Im Laufe des Aufenthalts hatte die Klägerin erfahren, dass es sich bei dem Absturz des G.-Flugzeuges um einen Suizid des Copiloten gehandelt hatte, welches sie in diesem Augenblick „völlig von der Rolle gebracht hätte“ und das Erlebte „das Schlimmste gewesen sei, was sie je erlebt hätte“. Die Tätigkeit verrichtete sie vom 25.3.2015 (Hinflug) bis zum 29.3.2015 (Rückflug) in dem Ort in der Nähe der Unfallstelle, ohne dass sie oder die Angehörigen zur Absturzstelle direkten Zugang hatten. Dann endete der Einsatz und sie flog nach D1 zurück, wo sie sich auch zeitweise in F. in einem kleinen Apartment aufhielt, dass sie mit anderen Flugbegleiterinnen teilte. Von ihrem Arbeitgeber erhielt sie vom 30.3.2015 bis zum 7.4.2015 eine „freie Regenerationszeit“. Zum Teil hielt sich die Klägerin auch in N. bei ihrer Mutter und in M1 bei ihrem Bruder auf.
Nach dem (später von der Beklagten eingeholten) Vorerkrankungsverzeichnis der Krankenkasse war die Klägerin vom 8.4.2015 bis 23.4.2015 unter der Diagnose chronischer posttraumatischer Kopfschmerz (ICD-10 G 44.3) arbeitsunfähig erkrankt, welches durch die Ärztin Dr. P. in F.bescheinigt wurde. Am 24.4.2015 wurde eine weitere Arbeitsunfähigkeit unter der Diagnose „akute Infektion der oberen Atemwege, nicht näher bezeichnet“ (ICD-10 J 06.9) für diesen Tag von derselben Ärztin bescheinigt.
Vom 25.4.2015 bis zum 28.4.2015 hielt sich die Klägerin erneut im Rahmen einer „Folgebetreuung“ der Angehörigen der Absturzopfer zu einer Trauerfeier in B. auf und erhielt von ihrem Arbeitgeber danach erneut eine „freie Regenerationszeit“ vom 29.4.2015 bis zum 4.5.2015. Danach bestand eine weitere Arbeitsunfähigkeit ab dem 5.5.2015 unter der Diagnose „Aneurysma und Dissektion der Arterie carotis (ICD-10 L 72.0), welche durch das Klinikum der J. in F. bescheinigt wurde.
Ab dem 28.5.2015 begab sich die Klägerin bei Dr. B1 in H. in privatärztliche psychiatrische Behandlung und schilderte dort Ängste, Vermeidungsverhalten und ängstliche Verunsicherung. Dr. B1 diagnostizierte eine „posttraumatische Belastungsreaktion“, ohne eine ICD-10-Codierung einer Diagnose vorzunehmen.
Am 29.6.2015 und 30.6.2015 war die Klägerin in der Klinik für Neurologie der Universität (J.) unter der Diagnose „Migräne mit Aura (klassische Migräne)“ ICD-10 L 72.0) in Behandlung. Im Bericht vom 30.6.2015 wurde weiter ausgeführt, dass sich die seit etwa 10 Jahren bekannte Migräne seit 02/2015 zunehmend verschlechtert hätte.
Die Klägerin erhielt nach Ablauf der Entgeltfortzahlung von ihrer gesetzlichen Krankenkasse Krankengeld.
Am 8.9.2015 erhielt die Beklagte schriftlich Kenntnis über das Unfallgeschehen, in dem die Mutter der Klägerin, nach einem telefonischen Erstkontakt Mitte August 2015, einige Unterlagen per Fax an die Beklagte übermittelte. Beigefügt waren eine Unfallmeldung für Bordpersonal an den Arbeitsgeber vom 22.8.2015, eine Meldung an die Krankenkasse und eine Mel...