Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung. Berufskrankheit gem BKV Anl 1 Nr 1103. Bronchialkarzinom. arbeitstechnische Voraussetzungen. 93 Chrom VI-Expositionsjahre. haftungsbegründende Kausalität. aktueller medizinischer Erkenntnisstand. Mindestbelastungsdosis. Theorie der wesentlichen Bedingung. rechtliche Wesentlichkeit einer rechnerisch verhältnismäßig niedriger zu bewertenden Ursache. Zigarettenkonsum: 29 Packungsjahre. geschützter Gesundheitszustand des Versicherten. maßgeblicher Zeitpunkt: vor Eintritt der schädigenden Einwirkungen. mögliche Entwicklung eines "Chromatlungenkrebs" nach Wegfall der Exposition. Maler, Lackierer und Galvaniseur
Leitsatz (amtlich)
Die Wahrscheinlichkeit eines naturwissenschaftlichen Ursachenzusammenhangs zwischen Einwirkungen durch Chrom und seine Verbindungen und einer Lungenkrebserkrankung iS der Berufskrankheit Nr 1103 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung kann in bestimmten Einzelfällen schon bei einer kumulativen Chrom(VI)-Belastung von knapp 100 µg/m3 x Jahren (hier: 93 Chrom VI-Expositionsjahren) zu bejahen sein.
Orientierungssatz
1. Ein naturwissenschaftlich gesicherter oder anerkannter Grenzwert für eine Dosis-Wirkungsbeziehung besteht bei der BK Nr 1103 derzeit nicht. Auch ist die BK durch den Verordnungsgeber ausdrücklich - anders als bestimmte andere Berufskrankheiten - nicht mit einem Grenzwert für eine Mindest-Exposition verknüpft worden. Mithin zeigt bereits die Normformulierung der BK Nr 1103, dass Chrom und seine Verbindungen vom Verordnungsgeber auch niedrigschwellig als gefährlich eingestuft werden, was durch die bekannten Forschungsbefunde eindrucksvoll belegt wird (vgl BSG vom 30.3.2017 - B 2 U 6/15 R = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 1103 Nr 1).
2. Auch eine nicht annähernd gleichwertige, sondern rechnerisch verhältnismäßig niedriger zu bewertende Ursache kann für den Erfolg rechtlich wesentlich sein, solange die andere Ursache keine überragende Bedeutung hat (vgl BSG vom 30.1.2007 - B 2 U 15/05 R = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 4104 Nr 2 - juris RdNr 22; BSG vom 30.3.2017 - B 2 U 6/15 R aaO).
3. Der Zigarettenkonsum des Versicherten von 1985/1986 bis zum Jahr 2015 (ca 29 Packungsjahre) steht der Bejahung der rechtlich wesentlichen Verursachung nicht als konkurrierende Ursache entgegen. Denn der Versicherte wird im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung in dem gesundheitlichen Zustand geschützt, in dem er mit dem gefährdenden Stoff konfrontiert wird. Wenn ein naturwissenschaftlicher Kausalzusammenhang zwischen einer beruflichen Einwirkung und einer Erkrankung festgestellt wurde, kann die rechtliche Wesentlichkeit dieser Einwirkung nicht bereits deshalb verneint werden, weil eine außerberufliche Einwirkung ebenfalls geeignet war, die Erkrankung des Versicherten hervorzurufen (vgl BSG vom 30.3.2017 - B 2 U 6/15 R aaO).
4. Der rechtlichen Wesentlichkeit steht auch nicht der Umstand entgegen, dass die letzte erhöhte Chromexposition im Jahr 1992 stattfand. Denn auch Jahre nach Wegfall der Exposition kann sich noch ein derartiger "Chromatlungenkrebs" entwickeln (vgl Merkblatt zur BK Nr 1103, Bek des BMA vom 25.2.1981 BArbBl Heft 4/1981, S 4).
Tenor
1. Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 20.07.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.11.2016 verurteilt, bei dem Kläger das Vorliegen einer Berufskrankheit nach der Nr. 1103 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung anzuerkennen.
2. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Anerkennung einer Berufskrankheit (BK) nach der Nummer 1103 (“Erkrankungen durch Chrom oder seine Verbindungen„) der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) im Streit.
Der am ... geborene Kläger hat den Beruf des Malers und Lackierers erlernt. Anschließend arbeitete er vom ... 1984 bis zum ... 1992 als Galvaniseur, wobei er unter anderem auch Kontakt mit Chrom und seinen Verbindungen im Sinne der BK Nr. 1103 hatte. Für die darauffolgenden verschiedenen Tätigkeiten des Klägers als Selbständiger bzw. als Verkäufer seit dem ... 1992 ist ein Kontakt mit Chrom und seinen Verbindungen nicht aktenkundig und auch nach Auffassung des Klägers nicht erfolgt.
Der Kläger teilte der Beklagten mit Schreiben vom 26.05.2015 mit, dass er an einem ausgedehnten linkszentralen Bronchialkarzinom cT4, cN3, cMx bei Vorliegen einer mediastinalen Lymphknotenmetastasierung leide, weswegen der Verdacht auf eine Berufskrankheit vorliege.
Die Firma Malerei A. bestätigte auf Anfrage der Beklagten, dass der Kläger von September 1980 bis Juli 1983 in der Ausbildung zum Maler und Lackierer gewesen sei, in diesem Betrieb jedoch zu keinem Zeitpunkt mit Asbest, Chrom, Nickel oder anderen Giftstoffen in Berührung gekommen sei. Der Arbeitgeber führte ergänzend aus, dass der Kläger zur damaligen Zeit vor und nach der Arbeitszeit ein starker Raucher gewesen sei.
Die Firma B. bestätigte eine Tätigkeit vom ... 1984 bis zum ... 1990 als Mitarbeiter im Bereich Hartchrom, be...