Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. einstweiliger Rechtsschutz. Regelungsanordnung. Anordnungsanspruch. Asylbewerberleistungen. Grundleistungen. Höhe der Bedarfssätze bei Unterbringung in einer Sammelunterkunft. Verfassungsmäßigkeit. Folgenabwägung
Orientierungssatz
1. Es bestehen erhebliche Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der in § 3a Abs 1 Nr 2 Buchst b AsylbLG und § 3a Abs 2 Nr 2 Buchst b AsylbLG geregelten Bedarfsstufen für erwachsene Leistungsberechtigte ohne Partner, die in Aufnahmeeinrichtungen, Gemeinschaftsunterkünften oder vergleichbaren Unterkünften untergebracht sind (vgl LSG Neustrelitz vom 11.5.2020 - L 9 AY 22/19 B ER = ZFSH/SGB 2020, 524 sowie SG Frankfurt vom 14.1.2020 - S 30 AY 26/19 ER).
2. In derartigen Fällen ist im Rahmen einer Folgenabwägung den Interessen des Antragstellers an der Sicherstellung seines Existenzminimums höheres Gewicht einzuräumen als den fiskalischen Interessen der Antragsgegnerin an der Vermeidung gegebenenfalls zu Unrecht erfolgter Leistungsgewährung.
3. Hinweis der Dokumentationsstelle des BSG: Die Entscheidung ist durch Beschluss des SG Kassel vom 16.7.2020 - S 12 AY 20/20 ER berichtigt worden.
Tenor
1. Auf den am 24.06.2020 beim Sozialgericht Kassel eingegangen Antrag des in einer Gemeinschaftsunterkunft lebenden und von der Antragsgegnerin Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz beziehenden Antragstellers, wird die Antragsgegnerin verpflichtet, dem Antragsteller ab 24.06.2020 vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache, dem Widerspruchsverfahren gegen den Bescheid vom 22.06.2020 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 05.06.2020 (Az.: xxxx1), bei Zurückweisung des Widerspruchs und anschließender fristgerechter Klageerhebung gegen den insoweit zu erteilenden Widerspruchsbescheid auch darüber hinaus, längstens jedoch bis zur Entscheidung im ersten Rechtszug und solange der Antragsteller in einer Gemeinschaftsunterkunft lebend von der Antragsgegnerin Leistungen nach dem AsylbLG erhält, diese Leistungen statt nach der Regelbedarfsstufe 2 auf der Grundlage der Regelbedarfsstufe 1 zu gewähren.
2. Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die notwendigen Kosten des Verfahrens zu erstatten.
Gründe
Der zulässige Antrag ist im entschiedenen Umfang aus den Gründen des Vorbringens des Antragstellers, der von ihm zitierten sozialgerichtlichen Rechtsprechung und den Hinweisen des Gerichts vom 3. Juli 2020 und der dort zitierten weiteren sozialgerichtlichen Rechtsprechung auf der Grundlage der von der erkennenden Kammer hier zu treffenden Abwägungsentscheidung im entschiedenen Umfang begründet.
Auf der Grundlage der vom Antragsteller zitierten verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zu den Anforderungen an Inhalt und Umfang existenzsichernder Leistungen sowie zur Festlegung eines menschenwürdigen Existenzminimums, die vom Antragsteller zitierte Stellungnahme des Deutschen Caritasverbandes zum Referentenentwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des AsylbLG vom 29. März 2019 und über die von ihm zitierte sozialgerichtliche Rechtsprechung (u.a. Sozialgericht Landshut, Beschluss vom 24. Oktober 2019, S 11 AY 64/19 ER; Sozialgericht Oldenburg, Beschluss vom 9. Juni 2020, S 25 AY 21/20 ER) hinaus, bestehen insoweit u.a. auch mit dem Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern (Beschlüsse vom 11. Mia 2020, L 9 AY 22/19 B ER und vom 10. Juni 2020, L 9 AY 22/19 B ER, juris) erhebliche Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der in § 3a Abs. 1 Nr. 2 Buchst b und § 3a Abs. 2 Nr. 2 Buchst b AsylbLG geregelten Bedarfsstufen für erwachsene Leistungsberechtigte ohne Partner, die in Aufnahmeeinrichtungen, Gemeinschaftseinkünften oder vergleichbaren Unterkünften untergebracht sind. Insoweit gebietet mit dem Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern eine verfassungskonforme Auslegung der Norm, dass als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal die tatsächliche und nachweisbare gemeinschaftliche Haushaltsführung des Leistungsberechtigten mit anderen in der Sammelunterkunft Untergebrachten vorausgesetzt werde, wofür die objektive Beweislast (und im Eilverfahren die Darlegungslast) beim Leistungsträger liege.
Geteilt werden die verfassungsrechtlichen Bedenken mit einem daraus resultierenden höheren Leistungsanspruch zumindest im einstweiligen Rechtsschutz dann neben dem Sozialgericht Landshut u.a. auch vom Sozialgericht Frankfurt, Beschluss vom 14. Januar 2020, S 30 AY 26/19 ER, juris, vom Sozialgericht Freiburg (Breisgau), Beschlüsse vom 3. Dezember 2019, S 9 AY 4605/19 ER, juris und vom 20. Januar 2020, S 7 AY 5235/19 ER, juris). Auch mit dem Sozialgericht München (Beschluss vom 10. Februar 2020, S 42 AY 82/19 ER) wirft die gesetzgeberische Konstruktion des § 3a Abs. 1 Nr. 2 b), Abs. 2 Nr. 2 b) AsylbLG insoweit diverse schwierige und ungeklärte verfassungsrechtliche Fragestellungen auf. Leistungsunterschiede zwischen Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG und dem SGB XII seien dabei nur gerechtfertigt, wenn und soweit die Bedarfslagen der beiden Gruppen in einem ...