Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. einstweiliger Rechtsschutz. Regelungsanordnung. Anordnungsanspruch. Sozialhilfe. Hilfe zum Lebensunterhalt. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des § 23 Abs 3 SGB 12 nF. Folgenabwägung

 

Orientierungssatz

1. Die Beachtung der maßgeblichen verfassungsrechtlichen Grundsätze nach Vorgabe der Entscheidung des BSG vom 3.12.2015 - B 4 AS 44/15 R = BSGE 120, 149 = SozR 4-4200 § 7 Nr 43 lässt es geboten erscheinen, in Abweichung vom bloßen Wortlaut der Regelung des § 23 Abs 3 SGB 12 nF im Rahmen der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren maßgeblichen Folgenabwägung eine (vorläufige) weitere Leistungsverpflichtung des Sozialhilfeträgers zur Gewährung von Hilfen zum Lebensunterhalt zu bejahen.

2. Die vom Gesetzgeber mit der Neuregelung vorgesehenen Überbrückungsleistungen, Leistungen in Härtefällen und für den Fall der Rückreise (vgl § 23 Abs 3 S 3 und 5 sowie Abs 3a SGB 12) stellen keinen verfassungsrechtlich gebotenen Ausgleich für den Wegfall der grundsätzlichen Hilfeleistung von einem Tag auf den anderen dar (vgl SG Dortmund vom 31.1.2017 - S 62 SO 628/16 ER).

 

Tenor

Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern vorläufig für die Zeit vom 07.02.2017 bis 30.06.2017, längstens jedoch bis zur Entscheidung in einem Klageverfahren hinsichtlich des Widerspruchs der Antragsteller vom 01.02.2017 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 26.01.2017, Leistungen nach dem Dritten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) im Umfang der jeweiligen Regelleistungen sowie der angemessenen Kosten der Unterkunft und Heizung in gesetzlichem Umfang zu gewähren.

Die Antragsgegnerin hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragsteller zu tragen.

 

Gründe

I. Streitig ist ein Anspruch der Antragsteller auf Leistungen nach dem Dritten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) gegenüber der Antragsgegnerin.

Der 1966 geborene Antragsteller und die mit ihm verheiratete und 1968 geborene Antragstellerin sind ungarische Staatsbürger. Sie sind nach eigenen Angaben zum 01.02.2013 nach Deutschland eingereist. Seit Juni 2013 hält sich auch der am 1994 geborene Sohn ZA. in Deutschland auf. Dieser bezieht Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) vom Jobcenter Stadt Kassel und wohnt gemeinsam mit seinen Eltern, den Antragstellern, in einer Wohnung in der A-Straße in A-Stadt. Die Antragsteller haben in der Vergangenheit in Deutschland kurzzeitig geringfügig gearbeitet. Sie haben zeitweise Leistungen des Jobcenters Stadt Kassel erhalten. Aus der Verwaltungsakte der Antragsgegnerin ergibt sich, dass den Antragstellern mit Bescheid vom 15.03.2016 ab Januar 2016 fortlaufend Leistungen nach dem Dritten Kapitel des SGB XII (Hilfe zum Lebensunterhalt) in Höhe des jeweiligen Regelbedarfs nach Regelbedarfsstufe 2, der anteiligen Unterkunftskosten und teilweise unter Berücksichtigung des von der Antragstellerin erzielten Einkommens als Reinigungskraft (in Höhe von brutto 100,00 € monatlich) gewährt werden. Ein Änderungsbescheid vom 28.10.2016 bewilligt sodann Leistungen nach dem Dritten Kapitel SGB XII für die Zeit von Mai 2016 bis November 2016. Auch im Dezember 2016 hat die Antragsgegnerin Leistungen an die Antragsteller ausgezahlt.

Mit Schreiben vom 20.12.2016 teilte die Antragsgegnerin den Antragstellern mit, sie würden aufgrund der seit dem 03.12.2015 ergangenen Rechtsprechung des Bundesozialgerichts (BSG) als erwerbsfähige EU-Bürger zur Finanzierung ihres Lebensunterhalts Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des SGB XII erhalten. Aufgrund einer zum 01.01.2017 eingetretenen Gesetzesänderung zu § 23 SGB XII entfalle dieser Anspruch mit Ablauf des 31.12.2016. Sofern die Antragsteller keine Arbeitnehmereigenschaft aufweisen würden, kein Aufenthaltsrecht besitzen würden oder sich ihr Aufenthaltszweck allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergäbe, hätten sie keinen weiteren Anspruch auf Sozialhilfe. Ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland hätten die Antragsteller nur bei Erfüllung der Voraussetzungen des Freizügigkeitsgesetzes/EU, § 2. Wenn die Antragsteller ihren Lebensunterhalt und ihren Krankenversicherungsschutz nicht selbst sicherstellen könnten, hätten sie kein Aufenthaltsrecht (§ 4 Freizügigkeitsgesetz/EU). Bis zu ihrer Ausreise könnten sie für längstens einen Monat nochmals eingeschränkte Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, der Unterkunfts- und Heizkosten sowie zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände erhalten. Außerdem könne ihnen für ihre Rückreise ein Darlehen für angemessene Fahrtkosten bewilligt werden. Das Schreiben stelle eine Anhörung nach § 24 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) dar. Die Antragsteller äußerten sich hierzu nicht. Mit Bescheid vom 29.12.2016 bewilligte die Antragsgegnerin den Antragstellern für die Zeit ab 01.01.2017 Hilfe zum Lebensunterhalt unter Berücksichtig...

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