Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Impfschaden. Hepatitis-B-Impfung. Twinrix-Impfstoff. Multiple Sklerose. ursächlicher Zusammenhang. aktueller Stand der medizinischen Wissenschaft. Kannversorgung
Orientierungssatz
1. Die Kannversorgung nach § 61 S 2 IfSG soll gerade in solchen Fällen eine Entschädigung ermöglichen, in denen die Ätiologie und Pathogenese eines Leidens noch nicht klar erwiesen ist, aber zumindest die Möglichkeit besteht, dass die Impfung einen entscheidenden Einfluss auf die Entstehung der Erkrankung gehabt hat.
2. Nach den Gutachten, die dem Gericht vorliegen, ist ein ursächlicher Einfluss von Hepatitis B-Impfungen auf die Entstehung einer MS als theoretisch begründet (dh als möglich) in Erwägung zu ziehen bzw ein Zusammenhang zwischen der Verabreichung des Impfstoffes "Twinrix" und der Entstehung der Sonderform der Multiplen Sklerose, der sog akuten disseminierten Enzephalomyelitis (ADEM), als wahrscheinlich anzusehen.
Tenor
I. Der Beklagte wird verurteilt, die beim Kläger vorliegende Sonderform der Multiplen Sklerose (ADEM) ab 01.02.2003 als Impfschadensfolge im Wege der Kannversorgung anzuerkennen und ab diesem Zeitpunkt Versorgung nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) zu gewähren.
II. Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers in vollem Umfang.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Anerkennung seiner Nervenerkrankung (Form der Multiplen Sklerose) als Folge von zwei Hepatitis-Impfungen.
Der am ...1954 geborene Kläger ist studierter Diplom-Agraringenieur und war bis zum Januar 2003 als Marketing-Manager bei einer Medizinzubehör-Lieferfirma, genannt "T…", in … beschäftigt. Am 30.09.1997 und am 27.10.1997 wurden ihm zur Prophylaxe gegen Hepatitis A und B zwei Impfungen mit dem Impfstoff "Twinrix" (Hersteller: Fa. G.) verabreicht. Zusätzlich erfolgte am 06.10.1997 eine Grippeimpfung. Laut Angaben des Klägers im Impfschadensantrag vom 19.02.2003 verspürte er erstmals am 13. oder 14. Januar 1998 eine Gefühllosigkeit der rechten Hand und des rechten Unterarmes. In Kernspintomogrammen des Schädels und der HWS vom Januar/Februar 1998 wurden erstmals verdächtige Herde im Hinblick auf das Vorliegen einer Encephalomyelitis disseminata (Multiple Sklerose) festgestellt. Ende Februar 1998 befand sich der Kläger zur stationären Abklärung im Bezirksklinikum ... Trotz des unauffälligen Liquorbefundes bestätigte das Bezirksklinikum ... den Verdacht einer Multiplen Sklerose (Befundbericht vom 25.03.1998). Im vorgenannten Befundbericht wurde darauf hingewiesen dass nach einer Akupunkturbehandlung bereits Anfang 1997 ein Pelzigkeitsgefühl der linken Gesichtshälfte bestanden habe.
Hierzu ergibt sich Folgendes aus der Akte: Der behandelnde Hausarzt des Klägers, Dr. S..., hatte im Dezember 1996 bei diesem wegen einer Sinusitis maxillaris eine Akupunktur durchgeführt. Am 30.12.1996 dokumentierte Dr. S... beim Kläger eine Hypästhesie der linken Gesichtshälfte, die seit 2 Wochen bestehe. Dr. S... erklärte hierzu im ärztlichen Attest vom 07.03.2005, dass die Akupunkturnadel bei dieser Behandlung direkt am Nervenaustrittspunkt im Bereich des zweiten Trigeminus-Astes beidseits gestochen wird. Hierbei kann es zu Nebenwirkungen in der Form kommen, dass Sensibilitätsstörungen im Versorgungsgebiet des entsprechenden Nerven eintreten. Er sehe daher einen zwingenden Kausalzusammenhang zwischen der Akupunkturbehandlung und den Sensibilitätsstörungen an der linken Gesichtshälfte. Einen Zusammenhang mit der wesentlich später diagnostizierten Multiplen Sklerose könne er dagegen nicht feststellen.
Am 12.02.2003 stellte der Kläger einen Antrag auf Anerkennung der Multiplen Sklerose als Impfschadensfolge.
Die Ehefrau des Klägers sagte in ihrer eidesstattlichen Versicherung vom 03.02.2004 aus, dass bei ihm bereits Ende November 1997 die ersten Zeichen der Nervenerkrankung aufgetreten seien. Sie hätten sich in Form eines Pelzigkeitsgefühls des rechten Zeigefingers gezeigt. Ihr Mann sei jedoch nicht zum Arzt gegangen, weil er beruflich sehr unter Druck gestanden habe. Erst als sich die Symptomatik noch weiter verschlechtert habe, insbesondere als er beim Einkaufen an der Kasse den Geldbeutel nicht mehr aus der Gesäßtasche nehmen habe können und auch keinen Stift mehr halten habe können, habe er im Januar 1998 einen Arzt aufgesucht.
Zur Klärung des Kausalzusammenhangs erstellte Dr. A... für den Beklagten ein nervenärztliches Gutachten. Im Gutachten vom 07.12.2004 kam sie zu dem Ergebnis, dass zwar mittlerweile das Vorliegen einer Multiplen Sklerose gesichert sei. Aus ihrer Sicht spreche aber mehr gegen als für einen Kausalzusammenhang. Bereits im Dezember 1996 seien Gefühlsstörungen an der linken Gesichtsseite aufgetreten, welche sie als Erstmanifestationszeichen einer Multiplen Sklerose wertete. Zudem gäbe es eine ausreichende wissenschaftliche Evidenz, dass ein kausaler Zusammenhang zwischen den Impfungen gegen Hepatitis B/Hepatitis A und der Entstehung einer Multiplen Sklerose unwahrscheinlich sei. Di...