Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. elektronischer Rechtsverkehr. Zugangseröffnung. Einrichtung elektronischer Kommunikation. Widerspruchseinlegung durch E-Mail -Rechtsbehelfsbelehrung. konkludente Widmung. entgegenstehender Nutzungswille

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Einrichtung elektronischer Kommunikation lässt allein noch keinen Rückschluss auf die Bereitschaft der Behörde zum Empfang gesicherter, elektronischer Widersprüche zu.

2. Weder § 2 EGovG, § 52b LVwG SH (juris: VwG SH), § 84 SGG oder § 36a SGB I eröffnen den Zugang für gesicherte E-Mail Widersprüche.

3. Rechtsbehelfsbelehrungen ohne Hinweis auf die Möglichkeit der Erhebung des Widerspruches in elektronischer Form sind nur dann fehlerhaft, wenn die zuständige Behörde den elektronischen Zugangsweg ausdrücklich oder konkludent eröffnet hat.

4. Eine konkludente Widmung kann aus dem bloßen Vorhandensein elektronischer Kommunikationsmöglichkeiten nicht ohne Weiteres geschlossen werden, wenn sich Anhaltspunkte für einen gegenteiligen Willen der Behörde ergeben.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 27.09.2023; Aktenzeichen B 7 AS 10/22 R)

 

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Kläger wenden sich gegen drei Aufhebungs- und Erstattungsbescheide, mit denen der Beklagte insgesamt 2.810,40 EUR überzahlter Leistungen für die Zeit von September 2017 bis November 2017 erstattet verlangt und streiten in diesem Zusammenhang um die Frage, ob die Kläger fristgemäß Widerspruch gegen diese Bescheide erhoben haben.

In dem streitgegenständlichen Zeitraum standen die Kläger bei dem Beklagten im Bezug von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II). Mit Bewilligungsbescheid vom 07. Juni 2017 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 08. Juni 2017 und 22. Juni 2017 bewilligte der Beklagte den Klägern Leistungen für die Zeit von Juni 2017 bis Mai 2018.

Mit drei Aufhebungs- und Erstattungsbescheiden vom 08. Februar 2018 hob der Beklagte die ursprünglichen Bewilligungen für die Zeit von September 2017 bis November 2017 auf und verlangte eine Überzahlung von insgesamt 2.810,40 EUR erstattet. In diesen Bescheiden wird in der Rechtsbehelfsbelehrung lediglich darüber belehrt, dass der Widerspruch „schriftlich oder zur Niederschrift bei der im Briefkopf genannten Stelle (…)“ einzulegen ist. Im Briefkopf der Bescheide der genannten Stelle findet sich u. a. die Angabe einer E-Mail-Adresse „...@jobcenter-ge.de“

Den gegen diese Bescheide am 27. Dezember 2018 erhobenen Widerspruch verwarf der Beklagte mit zwei Widerspruchsbescheiden vom 08. Januar 2019 jeweils als unzulässig, da der Widerspruch nicht innerhalb der Monatsfrist erhoben worden sei. Die Bescheide seien jeweils am 08. Februar 2018 bei der Post aufgegeben worden und gölten folglich am 11. Februar 2018 als bekannt gegeben. Die Widerspruchsfrist beginne am Tag danach und habe am 12. März 2018 geendet. Gründe für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand seien nicht ersichtlich.

Am 11. Februar 2019 haben die Kläger Klage bei dem Sozialgericht Lübeck erhoben, mit der sie die Aufhebung der Bescheide begehren. Zur Begründung tragen sie vor, dass der Widerspruch nicht verfristet gewesen sei. Die in den angefochtenen Bescheiden genutzten Rechtsbehelfsbelehrungen entsprächen nicht den rechtlichen Gegebenheiten, da in ihnen nicht auf die Möglichkeit der Einlegung des Rechtsbehelfs in elektronischer Form hingewiesen worden sei. Dies sei entsprechend der Rechtsprechung des Landessozialgerichtes (LSG) Schleswig (Beschluss vom 20. Dezember 2018, Az. L 6 AS 202/18 B ER) aber zwingend. Der Beklagte führe in den Briefköpfen der angefochtenen Bescheide eine E-Mail-Adresse auf, mit der rechtswirksam per qualifizierter Signatur korrespondiert werden könne. Da in der Rechtsbehelfsbelehrung der angefochtenen Bescheide der Hinweis auf die elektronische Einlegung des Rechtsbehelfsfehls fehle, gelte als Rechtsmittelfrist nicht die Monats-, sondern die Jahresfrist. Der Widerspruch sei innerhalb dieser Frist erfolgt.

Die Kläger beantragen (sinngemäß),

die Bescheide vom 08. Februar 2018 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 08. Januar 2019 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung verweist er im Wesentlichen auf die Ausführungen der angefochtenen Entscheidungen. Ergänzend trägt er vor, dass von einer Rechtswidrigkeit der Zurückweisung des Widerspruches als unzulässig nicht ausgegangen werden könne, da eine Teilnahme an der e-Justiz nicht vorliege.

Auf telefonische Nachfrage der Kammer hat der Beklagte schriftsätzlich am 08. Oktober 2020 in dem Parallelverfahren S 16 AS 113/19 mitgeteilt, dass eine Einführung des Verfahrens e-Justiz für ihn erst zum 17. August 2020 erfolgt ist.

Der Kammer haben die Gerichts- und Verwaltungsakte vorgelegen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der Entscheidungsfindung. Auf ihren Inhalt sowie den Inhalt der gewechselten Schriftsätze wird wegen der weiteren Einzelheiten Bezug genommen.

 

Entscheidungsgrü...

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