Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. einstweiliger Rechtsschutz. Anordnung der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage. Interessenabwägung. Asylbewerberleistung. Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs 4 AsylbLG. Verfassungsmäßigkeit. Unzumutbarkeit einer Abschiebung nach Bulgarien
Leitsatz (amtlich)
1. Es bestehen Zweifel, ob bei Leistungseinschränkungen nach § 1a Abs 4 AsylbLG das verfassungsrechtliche Existenzminimum noch gewährleistet ist.
2. Im einstweiligen Rechtsschutz sind existenzsichernde Leistungen in vollem Umfang jedenfalls dann zu gewähren, wenn die Abschiebung in einen anderen EU-Staat (hier: Bulgarien) wegen einer dort drohenden unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art 3 EMRK (juris: MRK) nicht möglich ist.
Tenor
1. Die aufschiebende Wirkung der gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 29.12.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.02.2017 vor dem Sozialgericht Lüneburg erhobenen Klage (Aktenzeichen: S 26 AY 9/17) wird angeordnet.
2. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller seine notwendigen Kosten zu erstatten.
3. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt X. wird abgelehnt.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten im einstweiligen Rechtsschutz über die Rechtmäßigkeit einer Leistungseinschränkung nach § 1 a Abs. 4 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG).
Der am 30.01.1993 geborene Antragsteller ist syrischer Staatsangehöriger. Er reiste im August 2014 über Bulgarien in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 07.10.2014 einen Asylantrag. Er lebt - seit 23.06.2016 gemeinsam mit seiner Ehefrau - im örtlichen Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners, von dem er seit 18.09.2014 Leistungen nach dem AsylbLG bezieht. Diese wurden zuletzt mit Bescheid vom 29.09.2016 für den Zeitraum 01.11.2016 bis 30.09.2017 auf 333,58 € festgesetzt (Regelsatz: 364,00 €, Abzug für Wohnen, Energie und Wohnungsinstandhaltung: 30,42 €).
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) stellte mit Bescheid vom 05.01.2015 fest, dass dem Antragsteller kein Asylrecht in der Bundesrepublik Deutschland zusteht und forderte ihn auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Unanfechtbarkeit der Entscheidung zu verlassen, und drohte ihm die Abschiebung nach Bulgarien an; weiterhin stellte das BAMF fest, dass der Antragsteller nicht nach Syrien abgeschoben werden dürfe. Diesen Bescheid hob das Verwaltungsgericht (VG) Lüneburg mit Urteil vom 07.03.2016 (Aktenzeichen: 2 A 5/15) auf.
Mit Schreiben vom 27.09.2016 und unter Vorlage eines Schreibens der bulgarischen Behörden vom 29.04.2014 teilte das BAMF dem Antragsgegner mit, dass für den Antragsteller subsidiärer Schutz in Bulgarien besteht. Daraufhin hob der Antragsgegner mit Bescheid vom 29.12.2016 seinen Leistungsbescheid vom 29.09.2016 für den Zeitraum 15.12.2016 - 30.09.2017 auf; mit weiterem Bescheid vom 29.12.2016 verpflichtete er den Antragsteller zur Erstattung von überzahlten Leistungen für die Zeit vom 15.12.2016 bis 31.12.2016 in Höhe von 109,16 € und bewilligte ab 01.01.2017 nur noch eingeschränkte Leistungen in Höhe von monatlich 135,24 €. Einen hiergegen, vom Antragsteller mit Schreiben seiner Bevollmächtigten vom 06.01.2017 erhobenen Widerspruch wies der Antragsgegner mit Widerspruchsbescheid vom 20.02.2017 zurück.
Dagegen hat der Antragsteller am 14.03.2017 vor dem Sozialgericht (SG) Lüneburg Klage erhoben und zugleich einstweiligen Rechtsschutz beantragt. Nach ständiger Rechtsprechung des VG Lüneburg lägen in Bulgarien systemische Mängel des Asylsystems vor. Dies gelte insbesondere für Personen, die bereits einen Schutzstatus im Land erhalten hätten. Er habe Bulgarien verlassen, weil ihm dort beachtliche Gefahren drohten. In Kürze erwarte er die Geburt eines Kindes; er sei nicht in der Lage, die hierfür erforderlichen Vorkehrungen zu finanzieren.
Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
die aufschiebende Wirkung der von ihm gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 29.12.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.02.2017 erhobenen Klage (Aktenzeichen: S 26 AY 9/17) anzuordnen.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Er vertritt die Auffassung, nach der Entscheidung des VG Lüneburg vom 07.03.2016 könne der Antragsteller einen Zweitantrag im Sinne von § 71 a Asylgesetz (AsylG) stellen. Die Voraussetzungen für eine Leistungseinschränkung gem. § 1 a Abs. 4 AsylbLG blieben dadurch aber unberührt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Schriftsätze der Beteiligten sowie auf die beigezogene Verwaltungsakte des Antragsgegners verwiesen.
II.
Der zulässige Antrag ist begründet.
Der einstweilige Rechtsschutz bemisst sich vorliegend nach § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Aufgrund der zum 06.08.2016 in Kraft getretenen Regelung § 11 Abs. 4 Nr. 2 AsylbLG kommt dem Widerspruch bzw. der Klage gegen den Bescheid vom 29.12.2016, mit dem die Leistungsbewilligung für den Zeitraum 15.12.2016 bis 31.12.2016 sowie ab 01.01.2...