Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitssuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Familienangehöriger eines Unionsbürgers. Nichtanwendung des Leistungsausschlusses bei fehlendem materiell-rechtlichem Aufenthaltsrecht. Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums. Verfassungswidrigkeit des Leistungsausschlusses. kein Anspruch auf Sozialhilfe
Leitsatz (amtlich)
1. Der Wegfall des Aufenthaltsrechts aus § 2 Abs 2 Nr 1a FreizügG/EU (juris: FreizügG/EU 2004) hat zur Folge, dass der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II nicht greift (Anschluss an LSG Darmstadt vom 7.4.2015 - L 6 AS 62/15 B ER = juris RdNr 49ff; entgegen LSG Darmstadt vom 11.12.2014 - L 7 AS 528/14 B ER).
2. Der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II verstößt gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art 1 Abs 1 GG in Verbindung mit Art 20 Abs 1 GG, wie es vom BVerfG in den Urteilen vom 9.2.2010 - 1 BvL 1/09 ua = BVerfGE 125, 175 = SozR 4-4200 § 20 Nr 12 und vom 18.7.2012 - 1 BvL 10/10 ua = BVerfGE 132, 134 = SozR 4-3520 § 3 Nr 2 konstituiert worden ist.
3. Als Menschenrecht steht das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu (Anschluss an BVerfG vom 18.7.2012 - 1 BvL 10/10 ua = aaO, juris RdNr 63).
4. Leistungsausschlüsse dem Grunde nach, die trotz bestehender Hilfebedürftigkeit eintreten und durch kein anderes existenzsicherndes Leistungssystem (zB durch Leistungen nach dem SGB XII oder nach dem AsylbLG) aufgefangen werden, sind per se verfassungswidrig, da sie evident die Gewähr dafür entziehen, ein Leben zu ermöglichen, das physisch, sozial und kulturell als menschenwürdig anzusehen ist (vgl SG Mainz vom 12.12.2014 - S 3 AS 130/14 = juris RdNr 219).
5. Der Verstoß gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums kann nicht durch einen Verweis auf die Möglichkeit der Rückkehr in den Herkunftsstaat vermieden oder gerechtfertigt werden (entgegen LSG Stuttgart vom 29.6.2015 - L 1 AS 2338/15 ER-B ua = NZS 2015, 759 = juris RdNr 39).
Orientierungssatz
1. Ein Rückgriff auf die Auffangregelung des § 23 Abs 1 S 3 SGB 12 zur Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums ist auf Grund der systematischen Stellung der Vorschrift im Gesetz ausgeschlossen.
2. Aktenzeichen beim LSG: L 3 AS 479/15 B ER
Tenor
1. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig Arbeitslosengeld II in Höhe von 545 Euro monatlich für den Zeitraum vom 01.07.2015 bis zum 30.11.2015 zu zahlen.
2. Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
I.
Der Antragsteller begehrt die vorläufige Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Zahlung von Arbeitslosengeld II im Wege der einstweiligen Anordnung.
Der 1981 geborene Antragsteller ist kolumbianischer Staatsangehöriger. Er lebt mit seinem Ehemann, einem spanischen Staatsangehörigen, zusammen in einer Mietwohnung in Ober-Olm und war im Jahr 2013 aus Spanien nach Deutschland eingereist. Der Antragsteller verfügt über eine Aufenthaltskarte nach § 5 Abs. 1 FreizügigkeitsG/EU.
Mit Bescheid vom 05.08.2013 hatte die Antragsgegnerin dem Antragsteller und seinem Ehemann Arbeitslosengeld II nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für den Zeitraum vom 04.08.2013 bis zum 31.12.2013 vorläufig bewilligt. Auf Grund eines Bescheids vom 25.09.2013 erfolgte auch eine vorläufige Leistungsbewilligung für die Zeit ab dem 01.07.2013. Mit Bescheid vom 03.12.2013 erfolgte eine Weiterbewilligung der Leistungen für den Zeitraum vom 01.01.2014 bis zum 30.06.2014. Der Vorläufigkeitsvorbehalt wurde jeweils mit einer noch ausstehenden Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) über die „EU-Konformität“ des Leistungsausschlusses von Angehörigen der EU-Staaten begründet.
Mit Bescheid vom 17.06.2014 erfolgte eine vorbehaltlose Leistungsbewilligung für den Zeitraum vom 01.07.2014 bis zum 31.12.2014.
Ende 2014 zogen der Antragsteller und sein Ehemann nach Ober-Olm in eine neue Mietwohnung. Hierfür hat der Antragsteller laut Mietvertrag eine Kaltmiete in Höhe von 250 Euro, Betriebskosten einschließlich Heizung in Höhe von 95 Euro und Kosten für einen Stellplatz in Höhe von 25 Euro zu zahlen.
Mit Bescheid vom 06.01.2015 in der Fassung von Änderungsbescheiden vom 26.01.2015 und vom 17.02.2015 bewilligte die Antragsgegnerin dem Antragsteller und seinem Ehemann Arbeitslosengeld II für den Zeitraum vom 01.01.2015 bis zum 30.06.2015 in Höhe von jeweils 530 Euro monatlich, wobei jeweils 170 Euro auf Bedarfe für Unterkunft und Heizung entfielen. Hierbei wurden die tatsächlich angegebenen Nebenkosten von insgesamt 95 Euro auf 65 Euro reduziert.
Unter dem 18.05.2015 stellten der Antragsteller und sein Ehemann einen Weiterbewilligungsantrag. Hierbei legte der Antragsteller Kontoauszüg...