Entscheidungsstichwort (Thema)

Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft. Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. Leistungen im Eingangsverfahren der Werkstatt für behinderte Menschen. Kostenübernahme. Zuständigkeitsklärung. Selbstverschaffung. Werkstattfähigkeit. sozialgerichtliches Verfahren. Prognoseentscheidung. Verurteilung nach Beiladung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der erstangegangener Leistungsträger nach § 14 Abs 1 S 1 SGB 9 ist zu einer umfassenden, auch über seinen Zuständigkeitsbereich hinausgehenden, Prüfung des Rehabilitationsbedarfs des behinderten Menschen verpflichtet. Soweit der Leistungsträger einen Rehabilitationsbedarf erkennt, so kann er nur entweder die Leistung selbst gewähren oder den Antrag an den seiner Ansicht nach zuständigen Träger weiterleiten.

2. Die Zuständigkeit als zweitangegangener Leistungsträger nach § 14 Abs 2 S 3 SGB 9 gilt grundsätzlich auch für Maßnahmen, für die der zweitangegangene Leistungsträger nicht Reha-Träger nach § 6 Abs 1 SGB 9 sein kann. Ein erneutes Weiterleiten ist nach § 14 Abs 2 S 5 SGB 9 nur in Abstimmung mit einem dritten Träger möglich.

3. Ist im gerichtlichen Verfahren die Zuständigkeit eindeutig geklärt und der endgültig zuständige Leistungsträger dem Verfahren beigeladen, so ist für die zukünftige Leistung zur Verhinderung eines diesbezüglich Erstattungsstreits der endgültige Leistungsträger nach § 75 Abs 5 SGG zu verurteilen.

4. Eine Selbstverschaffung steht einem Anspruch auf Leistungen nach dem Rechtsgedenken des § 13 Abs 3 SGB 5 und des § 15 Abs 1 S 4 SGB 9 dann nicht entgegen, wenn die Leistungen rechtswidrig abgelehnt wurden.

5. Eine Werkstattfähigkeit liegt nicht vor, wenn die Betreuung und Unterstützung des behinderten Menschen nicht mit dem in der Einrichtung vorhandenen Betreuungsschlüssel zu gewährleisten ist.

6. Zumindest im gerichtlichen Verfahren kann bei einer hinreichenden Grundlage für eine Prognose bereits das Absolvieren des Eingangsverfahrens abgelehnt werden, da der Verwaltung bei der Entscheidung darüber, ob die Werkstatt die geeignete Einrichtung für den behinderten Menschen ist, kein Beurteilungsspielraum zusteht.

 

Tenor

1. Der Bescheid der Beklagten vom 10.05.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.08.2007 wird aufgehoben.

2. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger die Kosten für den Aufenthalt in der Werkstatt für Behinderte Menschen für die Zeit vom 15.08.2007 bis 01.12.2009 zu gewähren, allerdings nicht höhere Kosten, als die in der Tagesförderstätte entstanden wären.

3. Der Beigeladene zu 1) wird verpflichtet, dem Kläger zukünftig Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu gewähren.

4. Im Übrigen wird die Klage zurückgewiesen.

5. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers. Im Übrigen werden Kosten nicht erstattet.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt im vorliegenden Klageverfahren zum einen die Übernahme der bisher in der Werkstatt für Behinderte Menschen entstandenen Kosten und zum andern die Aufnahme in das Eingangsverfahren der Werkstatt für Behinderte Menschen. Hilfsweise beantragt er zukünftig Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu gewähren.

Der 1987 geborene Kläger leidet unter schwersten körperlichen und geistigen Mehrfachbehinderungen. Er hat einen Grad der Behinderung von 100 mit dem Merkzeichen G, aG, H und RF. Bis Mitte 2007 besuchte der Kläger die I. innerhalb der Heilpädagogischen Hilfe J..

Am 23.04.2007 stellte der Kläger einen Antrag auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben bei der Beklagten. Dieser Antrag war nicht näher spezifiziert, jedoch richtete sich das Begehren des Klägers zu diesem Zeitpunkt auf die Teilnahme am Eingangsverfahren in der Werkstatt für Behinderte Menschen.

In einer sozialmedizinischen Stellungnahme vom 04.05.2007 diagnostizierte die Amtsärztin Dr. K. schwere körperliche und geistige Mehrfachbehinderungen. Es liegt ganztätige Pflegebedürftigkeit bei Pflegestufe III vor. Es könne nur in einem ganz engen Rahmen eine Förderung der Sinneswahrnehmungen erfolgen. Die Erbringung eines Mindestmaßes an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistungen in einer Tätigkeit sei auch unter Aufsicht und Anleitung nicht zu erwarten.

Mit Bescheid vom 10.05.2007 lehnte die Beklagte den Antrag auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben vom 23.04.2007 ab. Nach den Feststellungen des ärztlichen Dienstes seien die Einschränkungen so wesentlich, dass deshalb Hilfen zur beruflichen Eingliederung (Teilhabe am Arbeitsleben) nicht in Betracht kämen, weil ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistungen nicht erbracht werden könne. Eine Weiterleitung des Antrags erfolgte nicht.

Gegen diesen Bescheid legte der Kläger mit Schreiben vom 29.05.2007 Widerspruch ein. Die Werkstatt stünde allen behinderten Menschen unabhängig von der Schwere der Behinderung offen. Erst spätestens nach der Teilnahme an der Maßnahme müsste mindestens ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung vorliegen. Dies sei bereits dann der Fall w...

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