Entscheidungsstichwort (Thema)

Voraussetzungen der Zuerkennung des Merkzeichens "aG" im Schwerbehindertenrecht

 

Orientierungssatz

1. Aus einem Teil-GdB von 80 für eine Parese des Beines und einem solchen von 20 für eine Skoliose der Brust- und Lendenwirbelsäule, einem degenerativen Lendenwirbelsyndrom mit Spondylarthrosen, Osteochondrosen, Bandscheibenschäden und Foramenstenosen von 20 ist nach § 69 Abs. 1 SGB 9 ein GdB von 90 zu bilden.

2. Eine mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung zur Zuerkennung des Merkzeichens "aG" nach § 146 Abs. 3 SGB 9 setzt neben einem GdB von 80 voraus, dass sich der schwerbehinderte Mensch wegen der Schwere seiner Beeinträchtigung dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeugs bewegen kann.

3. Dies ist zu verneinen, wenn der Schwerbehinderte nicht dauerhaft auf die Verwendung eines Rollstuhls angewiesen ist.

 

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob bei der 1968 geborenen Klägerin ein Gesamt-Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs „aG“ vorliegen Die Klägerin leidet an einer Lähmung des linken Beines nach Poliomyelitis.

Mit Bescheid vom 15.10.2008 hatte das Hessische Amt für Versorgung und Soziales Wiesbaden - Versorgungsamt - (im Folgenden: Beklagter) bei der Klägerin einen GdB von 90 sowie ferner das Vorliegen der Merkzeichen „G“ und „B“ festgestellt. Folgende Funktionsbeeinträchtigungen wurden berücksichtigt: Wirbelsäulensyndrom bei Skoliose mit ausstrahlenden Beschwerden, Bronchialasthma, Diabetes mellitus und Beinlähmung links nach Poliomyelitis.

Am 26.02.2015 stellte die Klägerin einen Änderungsantrag nach dem Sozialgesetzbuch 9. Buch (SGB IX). Dieser Antrag wurde mit Bescheid des Beklagten vom 19.06.2015 abgelehnt. Der gegen diesen Bescheid eingelegte Widerspruch hatte keinen Erfolg; er wurde mit Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 20.08.2015 zurückgewiesen.

Am 17.09.2015 hat die Klägerin die vorliegende Klage erhoben.

Zur Begründung führt sie aus, dass sie hauptsächlich an einer poliomyelitischen Totallähmung des linken Beines leide. Aufgrund dessen könne sie ohne Hilfe ihres Ehemannes keine längeren Strecken zurücklegen und benötige einen Rollstuhl. Selbst kleinere Strecken unter 200 m seien für sie nur mit großer Anstrengung und mit Hilfe von Pausen und Unterarmgehstützen zu bewältigen. Seit dem Bescheid vom 15.10.2008 habe sich der Gesundheitszustand der Klägerin signifikant verschlechtert.

Die Klägerin beantragt,

1) den Bescheid des Beklagten vom 19.06.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.08.2015 aufzuheben;

2) festzustellen, dass die Klägerin die Voraussetzungen für die Feststellung eines GdB von 100 und die Zuerkennung des Merkzeichens „aG“ erfüllt.

Der Beklagte beantragt,

die Klage als unbegründet abzuweisen.

Er verweist zur Begründung seines Antrags auf die bisher getroffenen Feststellungen.

Zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts hat das Gericht Befundberichte der behandelnden Ärzte der Klägerin eingeholt (Dr. C., und Dr. E.).

Ferner hat das Gericht auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 SGG ein Sachverständigengutachten eingeholt, das von dem Sachverständigen Prof. Dr. F. erstattet wurde. Auf das fachorthopädisch-unfallchirurgische Gutachten vom 03.05.2017 (Bl. 115 - 132 Gerichtsakte) wird Bezug genommen.

Mit Verfügung vom 10.08.2017 hat das Gericht die Beteiligten darauf hingewiesen, dass es eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid beabsichtige (§ 105 Abs. 1 SGG). Den Beteiligten wurde Gelegenheit zur Stellungnahme hierzu sowie zu abschließendem Vortrag bis zum 31.08.2017 gegeben.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte sowie auf die beigezogene Behördenakte Bezug genommen. Die bezeichneten Akten waren Gegenstand der Entscheidung.

 

Entscheidungsgründe

Das Gericht kann nach Anhörung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist (§ 105 Abs. 1 SGG).

Die zulässige Klage ist unbegründet, denn der Bescheid des Beklagten vom 19.06.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.08.2015 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Feststellung des begehrten Behinderungsgrades von 100 sowie des Nachteilausgleichs „aG“.

1.

Der rechtliche Anspruch der Klägerin auf Feststellung eines höheren GdB folgt aus § 69 Abs. 1 und Abs. 3 SGB IX. Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag eines behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung fest. Das Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung ist entsprechend anz...

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