Daniel Hagmann, Monika Oerder
Das Wichtigste in Kürze:
1. |
Vor dem EGMR herrscht im eingeschränkten Sinne der Amtsermittlungsgrundsatz. |
2. |
Aufgrund der Amtsermittlung gibt es im Menschenrechtsbeschwerdeverfahren keine Beweisführungslast. |
3. |
Der Präsident des Gerichtshofs kann gemäß Art. 32 VerfO-EGMR Verfahrensanordnungen erlassen. |
Rdn 128
Literaturhinweise:
Lorz/Sauer, Wann genau steht Art. 3 EMRK einer Auslieferung oder Ausweisung entgegen?, EuGRZ 2010, 389, s.a. die Hinw. bei → Menschenrechtsbeschwerde, Allgemeines, Teil C Rdn 2.
Rdn 129
1.a) Vor dem EGMR herrscht im eingeschränkten Sinne der Amtsermittlungsgrundsatz. Der Gerichtshof prüft die Rechtssache mit den Vertretern der Parteien und nimmt, falls notwendig, Ermittlungen vor (Art. 38 EMRK). Hierbei haben die Parteien des Verfahrens und erforderlichenfalls auf Ersuchen durch den Gerichtshof auch nicht verfahrensbeteiligte Vertragsstaaten Mitwirkungspflichten: Sie sind verpflichtet, bei der Durchführung des Verfahrens mit dem Gerichtshof in vollem Umfang zusammenzuarbeiten und alle Maßnahmen, die der Gerichtshof für eine geordnete Rechtspflege für erforderlich hält, zu treffen, soweit sie dazu in der Lage sind, Art. 44a VerfO-EGMR (EGMR, Urt. v. 24.5.2005 – 25660/94 [Süheyla Aydin/Türkei Nr. 137 ff.]). Der verfahrensbeteiligte Vertragsstaat ist überdies verpflichtet, alles zur wirksamen Durchführung von Ermittlungen Erforderliche zu veranlassen (Art. 38 EMRK).
Rdn 130
Der EGMR kann im Rahmen seiner Ermittlungen Auskünfte, Stellungnahmen oder Berichte von jeder Person oder Institution seiner Wahl anfordern, Urkunden anfordern, Zeugen vernehmen (EGMR, Urt. v. 24.5.2005 – 25660/94 [Süheyla Aydin/Türkei Nr. 11]), Sachverständige bestellen und anhören, Ortsbesichtigungen durchführen oder sonst Augenschein nehmen (EGMR, Urt. v. 19.4.2001 – 28524/95 [Peers/Griechenland Nr. 4, 53]) und bewertet im Übrigen das gesamte ihm vorliegende Material unabhängig von dessen Herkunft (EGMR-E 1, 232 [Pl.], Urt. v. 18.1.1978 – 5310/71 [Irland/Vereinigtes Königreich Rn 160]).
☆ Entsprechende Ermittlungen durch den EGMR sind jedoch die Ausnahme . Im Regelfall begnügt er sich mit dem Vortrag der Parteien ( Mayer-Ladewig , Art. 38 EMRK Rn 11).Ausnahme. Im Regelfall begnügt er sich mit dem Vortrag der Parteien (Mayer-Ladewig, Art. 38 EMRK Rn 11).
Rdn 131
b) Verweigert eine Partei ihre Mitwirkungspflicht, kann der EGMR daraus Konsequenzen ziehen (etwa EGMR, Urt. v. 24.1.23 – 54714/17 [Svetova u.a./Russland Nr. 29 ff.] nach dem Austritt Russlands aus dem Europarat): Im Fall der Nichtbefolgung einer Anordnung kann der Kammerpräsident alle Maßnahmen treffen, die er für angemessen hält (Art. 44b VerfO-EGMR). Darüber hinaus kann er aus der mangelnden Mitwirkung einer Partei "die daraus ihm angebrachten Schlüsse ziehen", und zwar insbesondere dann, wenn eine Partei erbetene Informationen oder Beweise nicht beibringt, sie von sich aus sachdienliche Informationen nicht weitergibt oder es in anderer Weise an einer Mitwirkung am Verfahren fehlen lässt, Art. 44c Abs. 1 VerfO-EGMR (s. etwa EGMR, Urt. v. 24.5.2005 – 25660/94 [Süheyla Aydin/Türkei Nr. 137 bis 143, 154]).
Rdn 132
c) Eingeschränkt ist der Amtsermittlungsgrundsatz durch Anteile der Dispositionsmaxime: Der EGMR wird nur auf eine erhobene Beschwerde hin tätig und der Antragsteller bestimmt und begrenzt durch die Benennung des Beschwerdegegenstands (→ Menschenrechtsbeschwerde, Beschwerdegegenstands, Teil C Rdn 62) den Verfahrensstoff. Die Parteien sind überdies berechtigt, sich gütlich zu einigen (→ Menschenrechtsbeschwerde, Einigungsverfahren, Teil C Rdn 139). Insoweit gilt der Beibringungsgrundsatz wiederum nur eingeschränkt: So ist der EGMR nach Art. 37 Abs. 1 S. 2 EMRK auch im Fall einer gütlichen Einigung berechtigt, das Beschwerdeverfahren fortzusetzen, wenn die Achtung der Menschenrechte der EMRK und seiner Protokolle dies erfordert (→ Menschenrechtsbeschwerde, Einigungsverfahren, Teil C Rdn 145).
Rdn 133
2.a) Aufgrund der Amtsermittlung gibt es im Menschenrechtsbeschwerdeverfahren keine Beweisführungslast. Der EGMR prüft den gesamten ihm vorliegenden Verfahrensstoff, gleichgültig, wer diesen in das Verfahren eingebracht hat (EGMR [GK], Urt. v. 10.5.2001 – 25781/94 [Zypern/Türkei Nr. 113]). Bei der Würdigung der Beweismittel legt er den Grundsatz des Beweises "jenseits jeden vernünftigen Zweifels" zugrunde, wobei ein solcher auch aus einer Kette hinlänglich starker, eindeutiger und übereinstimmender Indizien oder Vermutungen folgen kann (EGMR [GK], Urt. v. 11.7.2006 – 54810/00 [Jalloh/Deutschland Nr. 67], NJW 2006, 3117, m.w.N.).
Rdn 134
b) Kann die Konventionsverletzung nicht bewiesen werden, geht dies grundsätzlich zulasten des Beschwerdeführers, den somit die objektive Beweislast trifft (Lorz/Sauer EuGRZ 2010, 394 m.w.N.). In Fällen, in denen Beschwerdeführern die Beweisführung regelmäßig nicht gelingen kann, gewährt der EGMR erhebliche Beweiserleichterungen.
Rdn 135
Rechtsprechungsbeispiele:
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Dies betrifft vor allem Fälle, in denen allein der Staat Zugang... |