Dr. Andreas Geipel, Daniel Hagmann
Das Wichtigste in Kürze:
1. |
Entscheidungsformen des EGMR sind Entscheidungen und Urteile. |
2. |
Die Urteile des EGMR sind in der Regel Feststellungsurteile, die sich bei Stattgabe auf die Feststellung der Konventionsverletzung beschränken. |
3. |
Entscheidungen über die Zulässigkeit und Urteile müssen begründet werden. |
4. |
Urteile werden öffentlich verkündet oder den Parteien bekannt gegeben und erwachsen in Rechtkraft, wenn die Große Kammer nicht mehr angerufen werden kann oder erfolglos angerufen wurde. |
5. |
Die Urteile und Entscheidungen des EGMR werden veröffentlicht; hierzu gibt der EGMR eine amtliche Sammlung heraus und gewährt Zugang zu seiner Datenbank HUDOC. |
Rdn 321
Literaturhinweise:
Garlicki/Westerdiek, Rechtsfolgen von Normenkontrollen – Die Rechtsprechung des EGMR: Das klassische Umfeld, EuGRZ 2006, 517
Myer/Mol/Kempees/v. Steijn/Bockwinkel/Uerpmann, EGMR-Verfahren – Die häufigsten Irrtümer bei Einreichen einer Beschwerde, MDR 2007, 505
Wittinger, Die Einlegung einer Individualbeschwerde vor dem EGMR, NJW 2001, 1238
s.a. die Hinw. bei → Menschenrechtsbeschwerde, Allgemeines, Teil C Rdn 1.
Rdn 322
1. Handlungsformen des EGMR sind Urteile und Entscheidungen. Isolierte Bescheidungen ausschließlich der Zulässigkeit ergehen als Entscheidungen. Fragen zur Begründetheit klärt der EGMR im Urteil.
Rdn 323
Daneben sind einige Gegenstände ihrer Bedeutung wegen den Urteilen zugewiesen: So erfolgt die Streichung einer bereits für zulässig erklärten Menschenrechtsbeschwerde im Register aufgrund eines Urteils (Art. 43 Abs. 3 S. 3 VerfO-EGMR). Auch der gesonderte Ausspruch über die gerechte Entschädigung gem. Art. 41 EMRK ergeht stets in Urteilsform (SK-StPO-Paeffgen, Einleitung EMRK Rn 359; → Menschenrechtsbeschwerde, Entschädigung, Teil C Rdn 161; → Menschenrechtsbeschwerde, Streichung aus der Liste, Teil C Rdn 297).
Rdn 324
2.a) Der Inhalt der Entscheidung orientiert sich am Begehren des Beschwerdeführers (→ Menschenrechtsbeschwerde, Beschwerdegegenstand, Teil C Rdn 62). Die Urteile des EGMR sind bezüglich der Konventionsverletzung grds. Feststellungsurteile. Dabei wird die Konventionsverletzung in allgemeiner Art festgestellt, ohne dass der beanstandete Rechtsakt im Tenor konkret benannt wird.
Rdn 325
b) Nur ausnahmsweise ordnet der EGMR darüber hinaus in seinen Urteilsgründen eine konkrete Maßnahme an, die der verurteilte Vertragsstaat zu treffen hat (ausführlich Karpenstein/Mayer/Breuer, Art. 46 EMRK Rn 6 ff.). Im Wesentlichen nimmt er solche Anordnungen vor, wenn die Art der Verletzung "aufgrund ihrer Natur keine echte Wahl hinsichtlich der zu ihrer Beendigung zu ergreifenden Maßnahme" zulässt (EGMR, Urt. v. 8.4.2004 – 71503/01 [Assanidze/Georgien Nr. 203], NJW 2005, 2207 – die Freilassung des gefangenen Beschwerdeführers; Urt. v. 26.2.2004 – 74969/01 [Görgülü/Deutschland Nr. 64 a.E.], NJW 2004, 3397 – mindestens die Einräumung des Umgangsrechts mit dem Beschwerdeführer, krit. hierzu SK-StPO-Paeffgen, Einleitung EMRK Rn 390b; Frowein/Peukert-Frowein, Art. 46 EMRK Rn 10). Auch im Rahmen der Piloturteile (→ Menschenrechtsbeschwerde, Urteil, Rechtswirkungen, Teil C Rdn 343) weist der EGMR dem betroffenen Staat an, konkrete Maßnahmen zu treffen.
Rdn 326
c) Gibt ein Urteil ganz oder teilweise nicht die übereinstimmende Meinung der Richter wieder, so ist nach Art. 45 Abs. 2 EMRK jeder Richter berechtigt, seine abweichende Meinung darzulegen. Die Beifügung eines solchen Votums ist nicht allein auf Fälle reiner Ablehnung beschränkt; es kann auch eine zustimmende Erklärung enthalten oder sich auf die Feststellung der Abweichung beschränken (Art. 74 Abs. 2 VerfO-EGMR). Es gibt auch gänzliche zustimmende Erklärungen, wenn es für geboten angesehen wird, den eingenommenen Standpunkt näher darzulegen (s. etwa EGMR [GK], Urt. v. 4.2.2005 – 46827 und 46951 [Mamatkulov u. Askarov/Türkei], EuGRZ 2005, 357 [362 ff.]: zustimmendes Votum des Richters Cabral Barreto, teilweise dissertierendes Votum des Richters Rozakis und gemeinsames teilweise dissertierendes Votum der Richter Caflisch, Türmen und Kovler zur Frage der Verbindlichkeit einstweiliger Maßnahmen; (→ Menschenrechtsbeschwerde, Einstweiliger Rechtsschutz, Teil C Rdn 155). Für Entscheidungen gilt dies nicht (Frowein/Peukert/Frowein, Art. 45 Rn 2).
Rdn 327
3.a) Alle Urteile des EGMR sowie dessen Entscheidungen über die Zulässigkeit müssen begründet werden, Art. 45 Abs. 1 EMRK. Die Begründungspflicht für Urteile besteht damit ausnahmslos, egal welchen Gegenstand sie zum Inhalt haben (auch bei bloßer Streichung aus der Liste der Fälle → Menschenrechtsbeschwerde, Streichung aus der Liste, Teil C Rdn 297). Entscheidungen müssen dagegen nur eine Begründung aufweisen, wenn sie sich über die Zulässigkeit verhalten. Andere Entscheidungen des EGMR müssen demnach nicht begründet werden (Meyer-Ladewig, Art. 45 EMRK Rn 3).
☆ Insbesondere gilt kein Begründungserfordernis für die Entscheidung des Ausschusses über die Annahme der Großen Kammer nach Art. 43 Abs. 2 EMRK (Erläuternder Bericht des Len...