Entscheidungsstichwort (Thema)
Einstweilige Verfügung im Beschlussverfahren. Wählbarkeit eines Betriebsratsmitglieds im Falle längerer Arbeitsverhinderung. Zugangsberechtigung zu den Betriebsratsunterlagen. Keine Beschränkung des Einsichtsrechts des Betriebsratsmitglieds
Leitsatz (redaktionell)
1. Nach § 85 Abs. 2 Satz 1 BetrVG ist auch im arbeitsgerichtlichen Beschlussverfahren der Erlass einer einstweiligen Verfügung zulässig. Es gelten die Vorschriften des 8. Buchs der ZPO entsprechend. In Betracht kommen Sicherungsverfügungen nach § 935 ZPO und Regelungsverfügungen nach § 940 ZPO.
2. Ein Betriebsratsmitglied, dem eine befristete Erwerbsminderungsrente zuerkannt ist, behält seine Wählbarkeit aus § 8 BetrVG und damit sein Betriebsratsmandat, da seine Rückkehr in den Betrieb vorgesehen ist. Eine bloße statistische Wahrscheinlichkeit, dass aus einer befristeten eine unbefristete Erwerbsminderungsrente werden könnte, beseitigt nicht die Wählbarkeit und nicht die Mitgliedschaft im Betriebsrat.
3. Die jederzeitige Zugangsberechtigung zu den Unterlagen des Betriebsrats nach § 34 Abs. 3 BetrVG bezieht sich nicht nur auf das eigentliche Einsichtsrecht in die Unterlagen. Vielmehr folgt als Rechtsreflex daraus auch ein Anspruch auf die Überlassung eines Schlüssels zum Betriebsratsbüro. Ebenso erstreckt sich das Einsichtsrecht auf sämtliche elektronisch gespeicherten Unterlagen und die elektronische Kommunikation des Betriebsrats.
4. Das jederzeitige Einsichtsrecht des Betriebsrats kann weder durch die Geschäftsordnung noch durch einen Beschluss des Betriebsrats eingeschränkt werden. Grund hierfür ist der Minderheitenschutz. Denn das Recht auf jederzeitige Information bezweckt auch, dass jedes einzelne Mitglied jederzeit die Aufgabenwahrnehmung der anderen Betriebsratsmitglieder kontrollieren können muss.
Normenkette
ArbGG § 85 Abs. 2; ZPO §§ 935, 940; BetrVG §§ 8, 25 Abs. 1 S. 2, § 34 Abs. 3
Verfahrensgang
ArbG Suhl (Entscheidung vom 14.04.2021; Aktenzeichen 6 BVGa 2/21) |
Tenor
1. Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Arbeitsgerichts Suhl vom 14.4.2021 - 6 BVGa 2/21 - abgeändert.
2. Der Antragsgegner wird bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache im Verfahren Arbeitsgericht Suhl 6 BV 14/20 verpflichtet, der Antragstellerin Zugang zu dem dem Antragsgegner zur Verfügung gestellten Raum (Betriebsratsbüro) im Betrieb der weiteren Beteiligten mittels Zurverfügungstellung eines Zugangsschlüssels zu gewähren.
3. Der Antragsgegner wird bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache im Verfahren Arbeitsgericht Suhl 6 BV 14/20 verpflichtet, der Antragstellerin Zugang zu den zwei in dem dem Antragsgegner zur Verfügung gestellten Raum (Betriebsratsbüro) im Betrieb der weiteren Beteiligten befindlichen Schränken zu gewähren.
4. Der Antragsgegner wird bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache im Verfahren Arbeitsgericht Suhl 6 BV 14/20 verpflichtet, der Antragstellerin Zugang zu dem abgeschlossenen Fach des in dem dem Antragsgegner zur Verfügung gestellten Raum (Betriebsratsbüro) im Betrieb der weiteren Beteiligten befindlichen Schreibtisch zu gewähren.
5. Der Antragsgegner wird bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache im Verfahren Arbeitsgericht Suhl 6 BV 14/20 verpflichtet, der Antragstellerin Zugang zu dem vom Antragsgegner genutzten E-Mail-Postfach zur E-Mail-Adresse ... mittels Zurverfügungstellung der entsprechenden Zugangsdaten (Login, Passwort) zu gewähren.
6. Im Übrigen wird der Antrag abgewiesen.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten über die Verpflichtung des Antragsgegners, der Antragstellerin mittels Zurverfügungstellung von Schlüsseln Zugang zum Betriebsratsbüro sowie auch Zugang zu dem vom Antragsgegner genutzten E-Mail-Postfach zu gewähren.
Die Beteiligte zu 3) ist ein Unternehmen des Lebensmitteleinzelhandels mit unter anderem einer Filiale in ..., bei der im Jahr 2020 eine Betriebsratswahl stattgefunden hat, aus der der Antragsgegner hervorgegangen ist. Die Antragstellerin ist seit dem 01.02.2014 bei der Beteiligten zu 3) beschäftigt und war vor der Neuwahl 2020 im vorherigen Betriebsrat Betriebsratsvorsitzende. Für die Neuwahl kandidierte sie für die Liste "Die Alten" auf Listenplatz 2 nach dem Bewerber ... auf Listenplatz 1. Nach dem Ergebnis der am 08.07.2020 durchgeführten Wahl des Antragsgegners entfiel auf die Liste "Die Alten" ein Wahlmandat. Zwischen den Beteiligten steht außer Streit, dass Herr ... mittlerweile aus den Diensten der Beteiligten zu 3) ausgeschieden ist.
Die Antragstellerin ist befristet bis zum 30.06.2021 voll erwerbsgemindert mit der Erlaubnis, in geringem Umfang Tätigkeiten auszuüben. Aufgrund dieser befristeten Erwerbsminderung war die Antragstellerin jedenfalls bis zum Zeitpunkt der mündlichen Anhörung am 29. Juni 2021 nicht für die Beteiligte zu 3) tätig.
Die Antragstellerin bat den Antragsgegner mit Schreiben vom 07.01.2021 (Bl. 12 d.A.), ihr einen Schlüssel zur Bürotür des Betriebsratsbüros und je einen Schlüssel zu den sich im ...