Entscheidungsstichwort (Thema)
Auslegung Allgemeiner Geschäftsbedingungen. Große dynamische Bezugnahmeklausel im Arbeitsvertrag. Bestimmbarkeit einer großen dynamischen Bezugnahmeklausel. Auslegung des normativen Teils des Tarifvertrags. Tarifliche Stichtagsregelungen bei arbeitgeberseitigem Verbandswechsel
Leitsatz (amtlich)
1. Eine Klausel im Arbeitsvertrag, wonach "im übrigen die Bestimmungen des jeweils für das Unternehmen gültigen Tarifvertrages" gelten sollen, ist in aller Regel als sogenannte große dynamische Bezugnahmeklausel auszulegen.
2. Große dynamische Bezugnahmeklauseln, die auch als Tarifwechselklauseln bezeichnet werden, sind im Arbeitsleben als Gestaltungsinstrument so weit verbreitet, dass ihre Aufnahme in Formulararbeitsverträge nicht überraschend ist (§ 305c Abs. 1 BGB). Große dynamische Bezugnahmeklauseln verstoßen weder gegen das Transparenzgebot in § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB noch gegen die Vorgaben aus § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 15 Nachweisgesetz. Vielmehr reicht die Bestimmbarkeit der anwendbaren Regelungen im Zeitpunkt der Anwendung.
3. Es ist durch Auslegung zu ermitteln, ob eine Besitzstandsklausel in einem Tarifvertrag lediglich deklaratorisch die gesetzliche Lage wiedergibt (§ 4 Abs. 3 TVG) oder etwa die vollständige Ablösung eines vormaligen Tarifvertrags zu beschränken sucht.
4. Durch die Aufnahme des Stichtags "vor oder bei Vertragsabschluss" in § 22 des zwischen dem Landesverband Thüringen des Verkehrsgewerbes e. V. und der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, Landesbezirk Thüringen, geschlossenen Manteltarifvertrages vom 12.07.2017 sowie in § 7 des zwischen den gleichen Tarifvertragsparteien geschlossenen Entgelttarifvertrags Logistikunternehmen vom 22.08.2019 erfassen die dortigen Besitzstandsklauseln Sachverhalte nicht, in denen diese Tarifverträge erst nachträglich aufgrund eines arbeitgeberseitigen Verbandswechsels kraft einzelvertraglicher Tarifwechselklausel im Arbeitsverhältnis Geltung erlangen.
Leitsatz (redaktionell)
1. Allgemeine Geschäftsbedingungen sind - ausgehend vom Vertragswortlaut - nach ihrem objektiven Inhalt und typischen Sinn einheitlich so auszulegen, wie sie von rechtsunkundigen, verständigen und redlichen Vertragspartnern unter Abwägung der Interessen der normalerweise beteiligten Verkehrskreise verstanden werden, wobei die Verständnismöglichkeiten des durchschnittlichen Vertragspartners des Verwenders zugrunde zu legen sind.
2. Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages folgt den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist zunächst vom Tarifwortlaut. Zu erforschen ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne am Buchstaben zu haften. Dabei sind der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und damit der von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnorm mit zu berücksichtigen, soweit sie in den tariflichen Normen ihren Niederschlag gefunden haben. Auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang ist abzustellen.
Normenkette
TVG § 4 Abs. 3, 5; NachwG § 2 Abs. 1 S. 2 Nr. 15; BGB § 305c Abs. 1, § 307 Abs. 1 S. 2; MTV Verkehrsgewerbe Thüringen v. 12.07.2017 §§ 5, 12, 22; ETV Logistikunternehmen v. 22.08.2019 § 7
Verfahrensgang
ArbG Gera (Entscheidung vom 04.11.2021; Aktenzeichen 5 Ca 118/21) |
Nachgehend
Tenor
1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Gera vom 04.11.2021- Az. 5 Ca 118/21 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
2. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um den Umfang der geschuldeten wöchentlichen Arbeitszeit sowie die Höhe der Bruttovergütung nach einem Tarifwechsel auf Arbeitgeberseite.
Die Klägerin ist seit dem 23.04.1997 bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin als Lagerarbeiterin beschäftigt.
Der aktuelle Arbeitsvertrag der Parteien vom 03.02.2003 (Bl. 9/10 der Akte) hat auszugsweise den nachfolgenden Inhalt:
"2. Die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit beträgt 39,0 Stunden, das entspricht einer durchschnittlichen monatlichen Arbeitszeit von 169,0 Stunden.
3. Die Vergütung für die unter 2. genannte Arbeitszeit setzt sich wie folgt zusammen:
Tariflohn/-gehalt nach Stufe L2 € 1.501,50 Euro.
...
9. Im übrigen gelten die Bestimmungen des jeweils für das Unternehmen gültigen Tarifvertrages".
Die Festlegungen zur wöchentlichen Arbeitszeit und zum Tarifentgelt entsprachen den seinerzeit einschlägigen tariflichen Regelungen.
Die Beklagte ist ein Unternehmen der Logistikbranche und gehört der A...-Gruppe an. Sie betreibt am Standort B... ein Logistikzentrum und war in der Vergangenheit ausschließlich für zwei Konzernschwestergesellschaften tätig. Bis ins Jahr 2020 galt für die Beklagte ein Sicherungstarifvertrag, geschlossen zwischen der Unternehmervereinigung für Arbeitsbedingungen im Handel und Dienstleistungsgewerbe e.V. (AHD), deren Mitglied die Beklagte war, und der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di. Nach § 5 Ziffer 1 Satz 1 dieses Sicherungstarifvertrages betrug die wöchentliche Arbeitszeit ausschließli...