Entscheidungsstichwort (Thema)
Wichtiger Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB. Zurückbehaltungsrecht des Arbeitnehmers bezüglich seiner Leistungserbringung
Leitsatz (redaktionell)
1. Bei einer fristlosen Kündigung ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände "an sich", d. h. typischerweise, als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der Umstände des Falles jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist oder nicht. Eine beharrliche Arbeitsverweigerung kann ein solcher "wichtiger Grund" sein.
2. Eine beharrliche Arbeitsverweigerung scheidet aus, wenn der Arbeitnehmer hinsichtlich seiner Leistungserbringung ein Zurückbehaltungsrecht hat (§ 275 Abs. 3 BGB). Die Erforderlichkeit der Betreuung von Kindern nach coronabedingter Schließung der Kindertagesstätte kann zu einer unverschuldeten Zwangslage führen, die als "entgegenstehendes Hindernis" i.S.d. § 275 Abs. 3 BGB je nach Einzelfall zu einer vorübergehenden Leistungsverweigerung berechtigen kann.
Normenkette
BGB § 626 Abs. 1; KSchG § 1 Abs. 2; BGB § 275 Abs. 3
Verfahrensgang
ArbG Erfurt (Entscheidung vom 14.07.2021; Aktenzeichen 4 Ca 1010/20) |
Tenor
1. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Erfurt vom 14.07.2021 - 4 Ca 1010/20 - wird zurückgewiesen.
2. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt der Beklagte.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer arbeitgeberseitigen außerordentlichen, hilfsweisen ordentlichen Kündigung vom 30.04.2020.
Die Klägerin ist bei dem beklagten Landkreis seit dem 15.08.1997 zunächst als Auszubildende und seit dem 13.07.1999 als Mitarbeiterin im Jugendamt gegen ein Bruttomonatsgehalt von zuletzt ca. 3.700,00 € beschäftigt. Sie ist am ...1980 geboren, ledig, alleinerziehend und zwei minderjährigen Kindern zum Unterhalt verpflichtet. Der Beklagte beschäftigt regelmäßig mehr als 10 Arbeitnehmer.
Die Tochter der Klägerin A... wurde am 22.02.2018 geboren. Bis zum 28.02.2020 befand sich die Klägerin in Elternzeit und bis 31.03.2020 in Urlaub. Ab 01.04.2020 war der Klägerin ein Kita-Platz zugesichert. In Absprache mit der Kita-Einrichtungsleitung hatte sich die Klägerin allerdings darauf verständigt, ihre Tochter dort erst ab dem 01.09.2020 betreuen zu lassen. Für die Zeit nach Dienstantritt ab 01.04.2020 plante die Klägerin stattdessen die Betreuung ihrer Tochter durch ihre Eltern.
Aufgrund der durch das Coronavirus bedingten Infektionslage ordnete der Freistaat Thüringen mit Wirkung vom 17.03.2020 die Schließung aller Schulen und Kindertagesstätten zunächst bis zum 19.04.2020 an. Diese Schließungsanordnung wurde später verlängert. In einer Information an seine Beschäftigten vom 13.03.2020 (Bl. 64 d.A.) legte der Beklagte unter anderem folgendes fest:
"Kann eine Arbeitnehmerin/-er infolge einer Kita- oder Schulschließung seiner Arbeitspflicht nicht nachkommen, weil er seine Kinder betreuen muss, ist die Rechtslage unklar. Ich habe für das Landratsamt B... entschieden, dass Beschäftigte, die aufgrund einer Kita- oder Schulschließung nicht zur Arbeit kommen können, Lohnfortzahlung zunächst für eine maximale Dauer von 6 Wochen erhalten. Diese Leistung wird gewährt für Kinder bis maximal zur 4. Klasse. Des Weiteren ist Voraussetzung, dass die betreffenden Beschäftigten alle Möglichkeiten einer selbstorganisierten Pflege ausgeschöpft haben müssen. Des Weiteren können sie ihr Kind, das nicht erkrankt sein darf und symptomfrei ist, zur Arbeit mitbringen, sofern sie in eigener Verantwortung die Entscheidung hierfür treffen und der Amtsleiter des jeweiligen Amtsbereichs in Abwägung der Besonderheiten des Amtes das Mitbringen des Kindes zulässt."
Aufgrund der Empfehlung des Thüringer Ministers für Bildung Jugend und Sport vom 15.03.2020 zur Kontaktvermeidung mit Großeltern wollte die Klägerin ab 01.04.2020 von einer Betreuung ihrer Tochter durch die Großeltern absehen und beantragte beim Beklagten mit E-Mail vom 24.03.2020 (Bl. 70 d.A.) die Freistellung vom Dienst unter Fortzahlung der Vergütung ab dem 01.04.2020 mit folgender Begründung:
"Aufgrund der aktuellen Corona-Krise ist eine Betreuung meiner Tochter A..., geb. am 22.02.2018 ab dem 01.04.2020 weder in der Kindertagesstätte noch bei den Großeltern möglich. Vom Kindesvater, welcher weiterhin seiner beruflichen Tätigkeit nachgeht, lebe ich seit November 2019 getrennt und bin daher alleinerziehend. ..."
Nach einem Telefonat mit der Leiterin des Rechts- und Personalamts des Beklagten am 01.04.2020 übersandte die Klägerin unter dem 02.04.2020 ein Schreiben an den Beklagten, in dem sie ihn darüber in Kenntnis setzte, dass sie den geplanten Dienstantritt ab 02.04.2020 nicht persönlich realisieren könne (Bl. 71 d.A.). Mit Schreiben vom 02.04.2020 (Bl. 74 d.A.) wies der Beklagte darauf hin, dass ein Anspruch auf Freistellung gegen Fortzahlung der Vergütung nicht bestehe, da die Voraussetzung, dass das ...