Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Ablehnung eines Sachverständige wegen Besorgnis der Befangenheit. Mängeln im Gutachten. Zeitpunkt der Ablehnungsfrist: gerichtlich gesetzte Frist zur Stellungnahme zum schriftlichen Gutachten. Einwendungen hinsichtlich der inhaltlichen Qualität und Überzeugungskraft des Gutachtens

 

Leitsatz (amtlich)

1. Ergibt sich der Grund zur Ablehnung des Sachverständigen wegen Besorgnis der Befangenheit aus dem Inhalt des Sachverständigengutachtens, läuft im allgemeinen die Frist zur Ablehnung des Sachverständigen gleichzeitig mit der vom Gericht gesetzten Frist zur Stellungnahme nach § 411 Abs 4 ZPO ab, wenn sich der Beteiligte zur Begründung des Antrags auf den Inhalt des Gutachtens stützt.

2. Einwendungen in Bezug auf die inhaltliche Qualität und Überzeugungskraft des Sachverständigengutachtens sind nicht geeignet, eine Besorgnis der Befangenheit zu begründen.

 

Tenor

Der Antrag der Klägerin vom 1. März 2023, den Sachverständigen H wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen, wird abgelehnt.

 

Gründe

I.

Die Klägerin begehrt in der Hauptsache die Feststellung weiterer Unfallfolgen hinsichtlich eines anerkannten Arbeitsunfalles vom 26. August 2015 - insbesondere auf psychiatrischem Fachgebiet -, die Feststellung des weiteren Vorliegens einer unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit und die Gewährung einer Verletztenrente.

In einem von der Klägerin angestrengten Klageverfahren hat das Sozialgericht Altenburg unter Abweisung der Klage im Übrigen durch Urteil vom 16. Oktober 2019 festgestellt, dass als weitere Unfallfolge eine Anpassungsstörung mit einer längeren depressiven Reaktion und ab 1. Juli 2016 eine Angst und Depression gemischt vorliegen und die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) bis 31. Juli 2016 40 v.H.  und darüber hinaus 20 v.H. beträgt. Des Weiteren hat es unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit bis 30. Juni 2016 festgestellt.

Im von der Beklagten angestrengten Berufungsverfahren hat der zuständige Berichterstatter des 1. Senats mit Beweisanordnung vom 18. Februar 2022 den Psychiater H mit der Erstellung eines Gutachtens nach § 106 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) beauftragt. Unter dem 30. November 2022, beim Landessozialgericht am 6. Dezember 2022 eingegangen, hat dieser sein Gutachten erstellt und festgestellt, dass als Folge des schädigenden Ereignisses vom 26. August 2015 eine Anpassungsstörung mit Angst und depressiver Reaktion gemischt nach ICD-10: F43.22 vorgelegen habe, welche zumindest seit Dezember 2018 abgeklungen sei. Die aktuell vorliegende Störung einer gemischten Angst- und depressiven Störung sei nicht durch das Ereignis vom 26. August 2015 verursacht worden. Bis August 2016 liege eine MdE im rentenberechtigenden Umfang vor und für die Zeit danach nicht mehr. Dieses Gutachten wurde den Beteiligten durch Verfügung des Berichterstatters vom 9. Dezember 2022 zur Kenntnis und Stellungnahme bis 15. Februar 2023 zugeleitet. Mit Schriftsatz vom 6. Februar 2023 legte die Beklagte eine Stellungnahme ihres Beratungsarztes M vom 16. Januar 2023 vor. Der Prozessbevollmächtigten der Klägerin wurde durch Verfügung des zuständigen Berichterstatters Fristverlängerung für eine Stellungnahme bis zum 1. März 2023 gewährt.

Durch am 1. März 2023 eingegangenen Schriftsatz hat die Prozessbevollmächtigte der Klägerin den Sachverständigen H für befangen erklärt.

II.

Die Ablehnung des Sachverständigen H ist statthaft; sie ist auch nicht verspätet geltend gemacht worden. Sie hat allerdings in der Sache keinen Erfolg.

Nach § 118 Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. §§ 406 Abs. 1 Satz 1, 42 Abs. 1 und 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) kann ein gerichtlich bestellter Sachverständiger aus denselben Gründen, die zur Ablehnung eines Richters berechtigen, wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden. Der Ablehnungsantrag ist nach § 406 Abs. 2 Satz 1 ZPO bei dem Gericht oder Richter, von dem der Sachverständige ernannt ist, vor seiner Vernehmung zu stellen, spätestens jedoch zwei Wochen nach Verkündung oder Zustellung des Beschlusses über die Ernennung. Zu einem späteren Zeitpunkt ist die Ablehnung nur zulässig, wenn der Antragsteller glaubhaft macht, dass er ohne sein Verschulden verhindert war, den Ablehnungsgrund früher geltend zu machen (§ 406 Abs. 2 Satz 2 ZPO). Dies trifft grundsätzlich zu, wenn die Klägerin - wie hier - den Ablehnungsgrund aus dem Inhalt des Gutachtens herleitet (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Sozialgerichtsgesetz, 13. Auflage 2020, § 118 Rn. 121).

In diesem Fall ist der Ablehnungsantrag ohne schuldhaftes Zögern (§ 121 Abs. 1 Satz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches ≪BGB≫), d. h. innerhalb einer den Umständen des Einzelfalls angepassten Prüfungs- bzw. Überlegungsfrist, und zwar unabhängig von der Prozesslage, zu stellen (vgl. Thüringer Landessozialgericht, Beschluss vom 29. Juni 2006 - L 6 RJ 132/04 -, Juris). Der Bundesgerichtshof (BGH) hält einen Befangenheitsantrag zumindest dann nicht für verspätet, wenn er innerhalb der zur Stellungnahme zum Gutachten...

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