Leitsatz (amtlich)

StPO §§ 96, 110

1. Benötigt die ermittelnde Stelle behördlich verwahrtes Schriftgut zu Beweiszwecken, muss sie zunächst ein Herausgabeverlangen an die Behörde richten. Gibt diese das Schriftgut mit der Erklärung heraus, dem Verlangen vollständig entsprochen zu haben, ist dies von der ermittelnden Stelle hinzunehmen.

2. Die ermittelnde Stelle darf (abgesehen vom Fall, dass die Ermittlungen sich gegen einen Behördenangehörigen richten) die Behörde zur Erlangung von Beweismitteln dann durchsuchen, wenn aufgrund von Tatsachen zu vermuten ist, dass entgegen der Behördenerklärung Beweismittel sich in den Diensträumen befinden.

3. Der ermittelnden Stelle obliegt im Rahmen der Durchsuchung, vorläufig sichergestelltes Material zu sichten. Dabei darf sie an der Durchsicht nur den in § 110 StPO genannten Personenkreis beteiligen, zu dem der Verteidiger nicht gehört. Nach erfolgter Durchsicht hat die ermittelnde Stelle dasjenige Material alsbald zurückzugeben, welches nicht beweiserheblich ist.

4. Für das als Beweismittel erhebliche Material erlässt die ermittelnde Stelle unter Beachtung des Bestimmtheitsgrundsatzes eine Beschlagnahmeanordnung.

5. Durchsicht und Beschlagnahme obliegen ausschließlich dem Gericht, wenn dieses nach Anklageerhebung im Rahmen seiner Amtsermittlungspflicht die Durchsuchung vorgenommen hat. § 110 StPO begründet hier eine Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft weder für die Materialdurchsicht noch für die Beschlagnahme.

 

Tenor

1. Der Beschlagnahmebestätigungsbeschluß des Landgerichts Mühlhausen vom 04. 10. 2000 wird aufgehoben.

2. Im übrigen wird die Beschwerde des Freistaats Thüringen gegen den Durchsuchungsbeschluß dieses Gerichts vom 26. 09. 2000 verworfen.

 

Gründe

I.

Gegen den Angeklagten P. und acht weitere Angeklagte findet derzeit die Hauptverhandlung vor einer Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts Mühlhausen statt. Der Vorwurf der zugelassenen Anklage lautet auf Subventionsbetrug in zwei Fällen bzw. Beihilfe hierzu u. a. gegenüber dem Freistaat Thüringen.

Da das Landgericht glaubte, einen Hinweis dafür gefunden zu haben, daß das geplante und nunmehr zu untersuchende Investitionsvolumen - den Subventionsgenehmigungsstellen möglicherweise bekannt - "überhöht" gewesen sein könnte, was wiederum im Hinblick auf BGH 3 StR 101/98, Entscheidung vom 11. 11. 1998, für die Schuldfrage, aber auch insgesamt für eine mögliche Strafzumessung beachtlich sein könnte, ordnete die Strafkammer mit dem angefochtenen Beschluß vom 26. 09. 2000 "die Durchsuchung des Dienstgebäudes, der Diensträume und der Nebengebäude der Thüringer Staatskanzlei, Regierungsstraße 73, 99084 Erfurt" an. Der Beschluß führte im einzelnen auf, nach welchen Vorgängen gesucht werden sollte.

Die Durchsuchung selbst begann am 27. 09. 2000 unter Mitwirkung des Kammervorsitzenden, eines Beisitzers, zweier Staatsanwälte und dreier Polizeibeamter des Bundeskriminalamtes. Dabei wurden 76 Akten und sonstige Schriftstücke sichergestellt, von denen ein Teil noch am 27. 09. 2000 grob gesichtet wurde. All diese Gegenstände wurden, da eine eingehende Durchsicht an diesem Tag nicht mehr möglich war, nach Vereinbarung mit dem Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten und Chef der Staatskanzlei - im folgenden nur genannt: Chef der Staatskanzlei - in einen Raum der Staatskanzlei verbracht, der sodann versiegelt wurde. Auf Ersuchen der Strafkammer begaben sich am 02. 10. 2000 zwei Staatsanwälte in Begleitung eines Polizeibeamten des BKA zur Staatskanzlei, um diese in dem versiegelten Raum verwahrten Akten und Schriftstücke abzuholen und in das Gerichtsgebäude nach Mühlhausen zu verbringen. Auf den Widerspruch des Bevollmächtigten der Staatskanzlei, Rechtsanwalt Lehmann, erklärten die Staatsanwälte, die Unterlagen seien beschlagnahmt, es bestehe Gefahr im Verzug. Diese Akten und Schriftstücke wurden sodann in mehreren Kartons, die wiederum mit Siegeln der Staatskanzlei und der Staatsanwaltschaft versehen wurden, unter erneutem Widerspruch nach Mühlhausen verbracht. Ein mit dem Datum vom 27. 09. 2000 und 2. 10. 2000 versehenes Durchsuchungsprotokoll, auf dem die mitgenommen Akten und Schriftstücke als "beschlagnahmt" bezeichnet sind, wurde übergeben. Mit Beschluß vom 04. 10. 2000 entschied die Strafkammer: "Die Anordnung der Staatsanwaltschaft Mühlhausen vom 27. 09. /02. 10. 2000, die in der Anlage zum Durchsuchungsprotokoll vom 27. 09. 2000 im Verzeichnis über beschlagnahmte Gegenstände unter den laufenden Nr. 1 - 76 näher bezeichneten Gegenstände zu beschlagnahmen, wird richterlich bestätigt. "

Gleichzeitig wurde Termin zur "gemeinsamen Akteneinsicht in die beschlagnahmten Unterlagen" auf den 06. 10. 2000 - zwischenzeitlich verlegt auf 20. 11. 2000 - bestimmt. Der Kammerbeschluß vom 04. 10. 2000 führte ferner aus: "Herrn Minister G. (Thüringer Staatskanzlei), dem Vertreter des Bundesfinanzministeriums, der Staatsanwaltschaft und sämtlichen Verteidigern wird Gelegenheit gegeben, in die Akten Einsicht zu nehmen bzw. etwaige Sperrerklärun...

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