Leitsatz (amtlich)
1. Die Indemnität nach Art. 55 Abs. 1 Thüringer Verfassung ist ein besonderes Verfahrenshindernis und damit eine von Amts wegen zu prüfende Prozessvoraussetzung. Sind die Voraussetzungen des Art. 55 Abs. 1 Thüringer Verfassung gegeben, ist die Einleitung des auf Unterlassung einer Äußerung eines Abgeordneten im Landtag gerichteten Verfahrens bereits unzulässig.
2. Ob eine Tatsache oder ein bloßes Werturteil anzunehmen ist, richtet sich nach dem objektiven Sinngehalt der Äußerung, wobei insbesondere der Kontext und der gesamte Kommunikationszusammenhang zu berücksichtigen sind. Eine isolierte Betrachtung verbietet sich in der Regel. Tatsachenbehauptungen ohne eigenen Bedeutungsgehalt erfüllen nicht den objektiven Tatbestand der Verleumdung nach § 187 StGB.
Verfahrensgang
LG Erfurt (Urteil vom 21.01.2016; Aktenzeichen 3 O 1584/15) |
Tenor
1. Auf die Berufung des Verfügungsbeklagten wird das Urteil des LG Erfurt vom 21.01.2016 abgeändert. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung wird abgelehnt.
2. Die Verfügungsklägerin hat die Kosten des einstweiligen Verfügungsverfahrens zu tragen.
Gründe
I. Die Parteien sind Abgeordnete des Thüringer Landtags. In dem einstweiligen Verfügungsverfahren begehrt die Verfügungsklägerin von dem Verfügungsbeklagten es zu unterlassen, zu behaupten und/oder zu verbreiten, sie brenne Sachen, Polizeiautos und Barrikaden an. Dieser Passus ist Teil eines Redebeitrages des Verfügungsbeklagten in der öffentlichen Sitzung des Thüringer Landtags vom 17.12.2015. Das LG hat die einstweilige Verfügung erlassen. Hiergegen wendet sich der Verfügungsbeklagte mit der Berufung.
Im Übrigen wird von der Darstellung des Tatbestandes gemäß §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 Satz 1, 542 Abs. 2 Satz 1 ZPO abgesehen.
II. Die Berufung ist zulässig, insbesondere an sich statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden.
Die Berufung ist begründet. Denn der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung gerichtet auf die Unterlassung einer Äußerung des Verfügungsbeklagten, die Teil seiner Rede als Abgeordneter in einer öffentlichen Sitzung des Thüringer Landtags vom 17.12.2015 ist, ist bereits unzulässig.
Der Einleitung des Verfahrens steht das Verfahrenshindernis der Indemnität gemäß Art. 55 Abs. 1 Satz 1 Thüringer Verfassung entgegen. Danach dürfen Abgeordnete zu keiner Zeit wegen einer Äußerung im Landtag, gerichtlich verfolgt oder sonst außerhalb des Landtags zur Verantwortung gezogen werden. Der Senat sieht hierin ein besonderes Verfahrenshindernis, dessen Nichtbestehen Prozessvoraussetzung ist.
Der Bundesgerichtshof hat in der Entscheidung vom 18.12.1979, Az. VI ZR 240/78, es zunächst dahin stehen lassen, ob das Abgeordnetenprivileg verfahrensrechtlich der prozessualen Zulässigkeit oder der materiellen Begründetheit einer Zivilklage zuzuordnen ist (a.a.O. Rn. 31). Zum Teil wird vertreten, dass das Abgeordnetenprivileg eine Prozessvoraussetzung sei (Wild, ZParl 1998, 317; Heintzen, ZParl 1998, 729; Klein in Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar, zu Art. 46 Rn. 32; OLG Düsseldorf, Urteil vom 28.05.2014, Az. 15 U 45/15; OLG Frankfurt, WRP 1985, 162). Andere sind der Auffassung, die Indemnität sei ein Rechtfertigungsgrund (Roll, NJW 1980, 1439; OLG München, Urteil vom 12.12.1986, Az. 21 U 5918/85; LG Hamburg, Urteil vom 30.03.2007, Az. 324 O 460/06). In der Entscheidung vom 05.05.1981, Az. VI ZR 184/79 ("Abgeordnetenprivileg"), führt der Bundesgerichtshof aus, dass der Indemnitätsschutz einer Verfolgung in einem zivilrechtlichen Ehrenschutzverfahren von vornherein entgegen stehen kann (a.a.O. Rn. 8 und 9). Daraus ist zu schließen, dass der Bundesgerichtshof - ohne dies ausdrücklich klar zu stellen - das Abgeordnetenprivileg verfahrensrechtlich eher der prozessualen Zulässigkeit einer Zivilklage zuordnet. Dieser Ansicht folgt der Senat. Das Abgeordnetenprivileg ist ein besonderes Verfahrenshindernis und damit negative Prozessvoraussetzung. Anerkannt ist, dass die Indemnität auch zivilrechtliche Sanktionen erfasst (Achterberg/Schulte in v. Mangoldt/Klein/Starck, Bonner Grundgesetz Kommentar, Bd. 2, 4. Aufl., zu Art. 46 Rn. 4; Leisner in Sodan, Grundgesetz, 3. Aufl., zu Art. 46 Rn. 3; Trute in v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, zu Art. 46 Rn. 16; Klein in Maunz-Dürig, Grundgesetz Kommentar, zu Art. 46 Rn. 32; Pieroth in Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 13. Aufl., zu Art. 46 Rn. 4; Achterberg, Parlamentsrecht, S. 241). Die Indemnität des Abgeordneten dient dessen Handlungs- und Entscheidungsfreiheit in der parlamentarischen Arbeit und sichert damit zugleich die freie parlamentarische Willensbildung (u.a. Trute in v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, a.a.O., Rn. 1, 4). Der Abgeordnete darf vorbehaltlich Art. 55 Abs. 1 Satz 2 Thüringer Verfassung (Art. 46 Abs. 1 Satz 2 GG) zu keiner Zeit wegen einer Äußerung im Parlament gerichtlich zur Verantwortung gezogen werden. Die Indemnität schließt demnach die Verfolgbarkeit aus. Historischer Zweck der Indemnität ist es, den Abgeordneten, ...