Cesare Vannucchi, Dr. Brigitta Liebscher
Rz. 831
Seit Inkrafttreten des Gesetzes zu Reformen am Arbeitsmarkt am 1.1.2004 sind für die Sozialauswahl bei betriebsbedingten Kündigungen nach § 1 Abs. 3 KSchG 4 Kriterien allein maßgeblich: die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter, die Unterhaltspflichten sowie die Schwerbehinderung des Arbeitnehmers (vgl. Rz. 801). Schon aus dem Wortlaut der Norm ergibt sich jedoch, dass dem Arbeitgeber nichtsdestotrotz ein gewisser Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Einbeziehung und Gewichtung auch anderer Sozialdaten zur Verfügung steht: Denn die Kündigung ist nur dann nicht sozial gerechtfertigt, wenn der Arbeitgeber die in § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG genannten Kriterien "nicht oder nicht ausreichend" berücksichtigt. Insofern kommt keinem der Kriterien ein absoluter Vorrang zu. Auch andere soziale Kriterien können im Rahmen der Sozialauswahl demnach Bedeutung erlangen.
Rz. 832
Den Arbeitgeber trifft die Pflicht, sich die für die Sozialauswahl notwendigen Personaldaten vergleichbarer Arbeitnehmer zu beschaffen. Sofern sich die benötigten Informationen den Personalakten nicht entnehmen lassen, ist der Arbeitgeber verpflichtet, die Arbeitnehmer zu befragen. Da der Arbeitgeber seinen Unterlagen sowohl das Lebensalter als auch die Dauer der Betriebszugehörigkeit der Arbeitnehmer entnehmen kann, bezieht sich die Pflicht zur Informationsbeschaffung insbesondere auf etwaige Unterhaltspflichten sowie eine mögliche Schwerbehinderung der Beschäftigten. Die Frage nach der Schwerbehinderung im Vorfeld einer Kündigung ist auch weder diskriminierend noch datenschutzwidrig. Arbeitnehmer wiederum haben eine Obliegenheit zur wahrheitsgemäßen Auskunft: Verschweigt ein Arbeitnehmer relevante Informationen, so kann er sich auch im Kündigungsschutzprozess nicht auf das Verschwiegene stützen. Führt eine schuldhaft falsche Auskunft zur rechtswidrigen Kündigung eines sozial schwächeren Arbeitnehmers, so ist der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber weiter gehend noch zum Schadensersatz verpflichtet.
Rz. 833
Ist ein Arbeitnehmer zwar nicht als schwerbehindert anerkannt, aber hat er vor Kündigung einen entsprechenden Antrag beim Versorgungsamt gestellt, dann wirkt eine spätere Anerkennung zurück auf den Zeitpunkt der Antragstellung. Dass der Arbeitgeber dies im Rahmen der Sozialauswahl noch nicht berücksichtigen kann, ist regelmäßig unerheblich, weil bereits eine Unwirksamkeit der Kündigung aus § 173 SGB IX folgt (vgl. hierzu auch Rz. 846).
Für die Kenntnis des Arbeitgebers ist auf den Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung abzustellen.
Der Arbeitgeber hat nur solche Unterhaltspflichten zu berücksichtigen, die im Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung bestanden. Er kommt seiner Berücksichtigungspflicht nach, wenn er der Lohnsteuerkarte die relevanten Daten entnimmt. Auch im Rahmen der Berücksichtigung einer Schwerbehinderung ist auf das Vorliegen einer Schwerbehinderung im Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung abzustellen (s. hierzu auch die Ausführungen zum Sonderkündigungsschutz, Rz. 845 ff.).
4.7.4.1 Dauer der Betriebszugehörigkeit
4.7.4.1.1 Allgemeines
Rz. 834
Die Dauer der Betriebszugehörigkeit ist ein betriebsbezogenes Sozialdatum von erheblichem Gewicht und verleiht dem Arbeitsplatz besonderen Schutz. Grund dafür ist, dass mit zunehmender Betriebszugehörigkeit regelmäßig auch der Beitrag, den der Arbeitnehmer zum Wert des Unternehmens leistet, wächst. Zudem nimmt im Allgemeinen die persönliche Bindung des Arbeitnehmers an den Betrieb zu, die sich etwa durch die Wahl eines Wohnorts in der Nähe des Arbeitsplatzes und der Entwicklung von Freundschaften und Lebensgewohnheiten äußern kann. Die Beendigung eines Arbeitsverhältnisses trifft deshalb den langjährig beschäftigten Arbeitnehmer oft besonders hart. Der soziale Gesichtspunkt der "Betriebszugehörigkeit" dient ferner dazu, die Treue des Arbeitnehmers zum Arbeitgeber zu werten.
Allerdings ist die Betriebszugehörigkeit als Sozialdatum im Rahmen der Auswahl nach § 1 Abs. 3 KSchG nicht mit derjenigen Zeitspanne identisch, die ein Arbeitnehmer in demselben Betrieb arbeitet: Ausschlaggebend ist vielmehr die Beschäftigung bei demselben Arbeitgeber, auch wenn sie in verschiedenen Betrieben stattfand. Die genannten wirtschaftlichen und sozialen Bindungen können nämlich auch betriebsunabhängig entstehen, z. B. wenn der Arbeitgeber mehrere Betriebe in räumlicher Nähe führt. Insofern können zur Berechnung der Dauer der Betriebszugehörigkeit die Grundsätze zur Bestimmung der Wartezeit nach § 1 Abs. 1 KSchG herangezogen werden, für die der ununterbrochene rechtliche Bestand des Arbeitsverhältnisses mit demselben Arbeitgeber entscheidend ist. Es ist insoweit angemessen auf die Dauer der Unternehmenszugehörigkeit abzustellen. Eine entsprechende Wertung findet sich auch in § 10 KSchG, der bei der Bestimmung der Höhe der Abfindung...