Prof. Dr. Mark Lembke, Dr. Jens-Wilhelm Oberwinter
Rz. 95
Vor diesem Hintergrund ist eine Unterrichtung des zuständigen Betriebsrats nur dann rechtzeitig i. S. d. § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG, wenn sie vor der endgültigen Entscheidung über die Durchführung der Massenentlassung erfolgt. Die Unterrichtung muss so rechtzeitig sein, dass die Vorschläge und Bedenken des Betriebsrats bei der Planung der Massenentlassung und im Rahmen der nach § 17 Abs. 2 Satz 2 KSchG erforderlichen Beratungen noch berücksichtigt werden können (vgl. auch § 90 Abs. 2 Satz 1 BetrVG). Die Unterrichtungspflicht besteht jedoch noch nicht im Stadium bloßer Gedankenspiele und Vorüberlegungen. Die in Art. 2 MERL vorgesehene Konsultationspflicht entsteht, wenn der Arbeitgeber erwägt, Massenentlassungen vorzunehmen, oder einen Plan für Massenentlassungen aufstellt bzw. bevor der Arbeitgeber eine strategische oder betriebswirtschaftliche Entscheidung trifft, die ihn zwingt, Massenentlassungen ins Auge zu fassen oder zu planen. Das Entstehen der Konsultationspflicht setzt jedoch nicht voraus, dass der Arbeitgeber bereits in der Lage ist, den Arbeitnehmervertretern alle Auskünfte zu den geplanten Massenentlassungen nach Art. 2 Abs. 3 UAbs. 1 lit. b MERL (entspricht § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG), wie z. B. Gründe, Zahl und Zeitraum der Entlassungen zu gewähren. Der Arbeitgeber darf auch bei einer geplanten Betriebsstilllegung im Zeitpunkt der Einleitung des Konsultationsverfahrens noch keine unumkehrbaren Maßnahmen getroffen und damit vollendete Tatsachen geschaffen haben. Im Zusammenhang mit Massenentlassungen im Konzern entsteht die Pflicht zur Konsultation der Arbeitnehmervertreter für die Tochtergesellschaft, welche die Arbeitgebereigenschaft innehat, freilich erst, wenn diese Tochtergesellschaft, bei der es zu Massenentlassungen kommen könnte, benannt worden ist und wenn es innerhalb des Konzerns zum Erlass von strategischen Entscheidungen oder Änderungen der Geschäftstätigkeit kommt, die den Arbeitgeber zwingen, Massenentlassungen ins Auge zu fassen oder zu planen. Dadurch kann es zu einer Vorverlagerung der Konsultation nach § 17 Abs. 2 KSchG kommen, da es nach Ansicht des EuGH nicht darauf ankommen soll, dass der Arbeitgeber eine Massenentlassung beabsichtigt, sondern es genügt, wenn eine Entscheidung der Konzernspitze diese bei dem Arbeitgeber vorhersehbar werden lässt. Die Kriterien des EuGH sind dabei allerdings so vage, dass die praktische Abgrenzung schwierig erscheint. Abgesehen davon wird es nicht sanktioniert, wenn die Konsultationen nicht rechtzeitig eingeleitet werden. Maßgeblich ist vielmehr, dass die Pflichten nach § 17 Abs. 2 KSchG abschließend erfüllt wurden, bevor die Anzeige erstattet und die Kündigungen ausgesprochen werden.
Rz. 96
Nach der Junk-Entscheidung des EuGH muss das Konsultationsverfahren mit den Arbeitnehmervertretern abgeschlossen sein, bevor der Arbeitgeber die Anzeige erstatten und die Entlassung vornehmen kann. Daher muss der Arbeitgeber den Betriebsrat auf jeden Fall vor der Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit und vor Ausspruch der Kündigungen bzw. Veranlassung sonstiger Beendigungshandlungen (vgl. § 17 Abs. 1 Satz 2 KSchG) unterrichten. Im Hinblick auf die 2-Wochen-Frist des § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG sollte die Unterrichtung spätestens 2 Wochen und einen Tag vor Erstattung der Anzeige erfolgen. In der Praxis wird das Unterrichtungs- und Beratungsverfahren im Falle einer Betriebsänderung häufig mit der Unterrichtung und Beratung nach § 111 BetrVG und den Interessenausgleichsverhandlungen verknüpft. Daher ersetzt auch der Interessenausgleich mit Namensliste nach § 1 Abs. 5 Satz 4 KSchG bzw. § 125 Abs. 2 InsO die Stellungnahme des Betriebsrats nach § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG.