Prof. Dr. Mark Lembke, Dr. Jens-Wilhelm Oberwinter
Rz. 176
Macht der Arbeitnehmer mit seiner arbeitsgerichtlichen Klage einen Verstoß des Arbeitgebers gegen die Vorschriften zur Massenentlassungsanzeige, d. h. die Konsultationspflicht (§ 17 Abs. 2 KSchG) und/oder die Anzeigepflicht (§ 17 Abs. 1 und 3 KSchG) geltend, ist Folgendes zu beachten:
7.1.2.1 Frühere Rechtsprechung vor "Junk"
Rz. 177
Nach der früheren Rechtsprechung des BAG vor dem EuGH-Urteil in Sachen "Junk" (vgl. Rz. 15, 34, 155) galten in prozessualer Hinsicht folgende Grundsätze: Rügte der Arbeitnehmer den Verstoß gegen die Vorschriften der §§ 17 ff. KSchG im Rahmen einer Kündigungsschutzklage, war die Klage selbst bei Vorliegen eines Verstoßes grds. abzuweisen, weil der Verstoß nur zu einer Entlassungssperre führte und von einem nach § 4 KSchG formulierten Klageantrag grds. nicht erfasst wurde. Etwas anderes galt nur für den Fall der gänzlich unterbliebenen Massenentlassungsanzeige. In diesem Fall endete das Arbeitsverhältnis nicht zu dem in der Kündigung genannten Termin, da die Entlassung nicht vollzogen werden durfte; diese Rechtsfolge wurde von dem Klageantrag, dass das Arbeitsverhältnis durch die entsprechende Kündigung nicht aufgelöst worden ist, erfasst.
7.1.2.2 Heutige Rechtslage
Rz. 178
Da eine nicht ordnungsgemäße Durchführung des Konsultationsverfahrens sowie eine unterlassene bzw. nicht ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige nach bisheriger Rechtsprechung des BAG grundsätzlich zur Unwirksamkeit der Kündigung führt (vgl. Rz 153 ff.), muss der Arbeitnehmer dies nach den §§ 4, 7 KSchG innerhalb von 3 Wochen nach Zugang der Kündigung durch eine Kündigungsschutzklage geltend machen (§ 13 Abs. 3 KSchG), sonst gilt die Kündigung als von Anfang an rechtswirksam. Jedoch kann der Arbeitnehmer sich nach §§ 6, 13 Abs. 3 KSchG noch bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung 1. Instanz auf den Verstoß gegen die Vorschriften zur Massenentlassungsanzeige berufen, wenn er innerhalb der 3-Wochen-Frist Klage wegen Unwirksamkeit der Kündigung aus anderen Gründen erhoben hat. Hat das Arbeitsgericht den Hinweis nach § 6 Satz 2 KSchG unterlassen, muss das LAG auf eine entsprechende Rüge selbst prüfen, ob der Arbeitgeber seinen Pflichten aus § 17 KSchG genügt hat. Die Beschränkung der Geltendmachung der Unwirksamkeit durch §§ 4, 7 KSchG ist mit der MERL vereinbar.
Rz. 179
Der Kläger muss substanziiert darlegen, inwiefern der Arbeitgeber gegen die Konsultationspflicht (§ 17 Abs. 2 KSchG) bzw. die Anzeigepflicht (§ 17 Abs. 1 und 3 KSchG) verstoßen haben soll. Dabei reicht nach dem BAG zunächst die schriftsätzliche Rüge, es sei trotz Überschreitens der Schwellenwerte keine Massenentlassungsanzeige erfolgt bzw. es sei keine Unterrichtung des Betriebsrats und keine Beratung mit ihm erfolgt. Jedenfalls, wenn der Arbeitgeber darauf nicht erwidert, genügt es den Anforderungen des § 6 Satz 1 KSchG, dass der beklagte Arbeitgeber dem erstinstanzlichen Vortrag des klagenden Arbeitnehmers die "Stoßrichtung" der Rüge entnehmen kann (vgl. Rz. 45).
Rz. 180
Die Unwirksamkeit sonstiger vom Arbeitgeber veranlasster Beendigungshandlungen (z. B. Eigenkündigung des Arbeitnehmers; Aufhebungsvertrag, vgl. Rz. 23 ff.) ist im Weg der allgemeinen Feststellungsklage (§ 256 Abs. 1 ZPO) geltend zu machen. Sie ist nicht fristgebunden.
Rz. 181
Beruft sich der Arbeitnehmer aber nicht in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der Entlassung auf die angebliche Verletzung der Vorschriften über die Massenentlassungsanzeige, kann die Klage unter dem Gesichtspunkt der materiellen oder prozessualen Verwirkung (§ 242 BGB) abzuweisen sein.