Prof. Dr. Christian Rumpf
Rz. 11
Die Türkei verfügt über eine gut ausgebaute und dem Wortlaut der Verfassung nach auch unabhängige Justiz. Mängel weist sie infolge praktischer Unzulänglichkeiten auf, etwa wegen einer unzureichenden Anzahl von Richterinnen und Richtern oder einer unökonomischen Umsetzung der Verfahrensregeln, was zu unnötigen Verlängerungen der Prozessabläufe führt. Auch die Qualität der Richterausbildung hat in den letzten Jahren umgekehrt proportional zum Anstieg der Zahl der juristischen Fakultäten (Stand Juni 2021: 84) abgenommen. Das Selbstverwaltungsorgan der Justiz ist für die ordentliche und Verwaltungsgerichtsbarkeit der Richter- und Staatsanwälterat (Hakimler ve Savcılar Kurulu), der aus dem Justizminister, einem Staatssekretär der Justiz und zahlreichen weiteren Mitgliedern besteht, die aus den obersten Gerichten, der übrigen Gerichtsbarkeit und aus anderen Institutionen kommen, die nicht der Justiz angehören. Seit deren Ernennung weitgehend durch die jeweilige Mehrheit der Partei und den Präsidenten der Republik kontrolliert wird, ist die Unabhängigkeit der Justiz, vor allem im Bereich der Straf- und Verwaltungsjustiz, jedoch fraglich.
Rz. 12
Seit 1961 gibt es ein effektiv arbeitendes Verfassungsgericht (Anayasa Mahkemesi), das seit der Verfassungsreform 2017 fünfzehn Richter aufweist und je nach Angelegenheit im Plenum oder in Kammern tagt. Hier ist jetzt stärkerer politischer Einfluss gegeben, nachdem das Parlament wieder an der Richterwahl – wie schon unter der Verfassung von 1961 – beteiligt ist und der Präsident der Republik auch Vorsitzender seiner Partei sein kann. Das türkische Verfassungsprozessrecht kennt die konkrete Normenkontrolle im Wege der Vorlage durch Gerichte und die abstrakte Normenkontrolle, die durch den Präsidenten der Republik sowie in bestimmten Konstellationen durch Abgeordnete eingeleitet werden kann. Die Einführung der Verfassungsbeschwerde durch die Verfassungsreform 2010 wurde mit Wirkung zum 23.9.2012 umgesetzt. Die Verfassungsbeschwerde hat sich zu einem effektiven Kontrollmittel entwickelt. Der Organstreit ist dem türkischen Verfassungsprozessrecht nach wie vor unbekannt. Das Verfassungsgericht führt gegen den Präsidenten der Republik, den Präsidenten der Großen Nationalversammlung der Türkei, die Stellvertreter des Präsidenten der Republik, die Präsidenten und Mitglieder des Verfassungsgerichts, des Kassationshofs, des Staatsrats, deren Generalstaatsanwälte und Stellvertreter, gegen Präsidenten und Mitglieder des Richter- und Staatsanwälterats und des Rechnungshofs wegen derer im Amt begangenen Straftaten in seiner Eigenschaft als Strafgerichtshof Strafverfahren durch. Es ist ferner Kontrollinstanz im Parteienrecht, indem es auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft beim Kassationshof Parteien verbieten oder verwarnen kann und von Amts wegen deren Finanzen überprüft. Vorläufiger Rechtsschutz ist im Wege der einstweiligen Anordnung möglich, die allerdings nicht gesetzlich geregelt ist.
Rz. 13
Die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der heutigen Form besteht seit 1982, der Staatsrat (Danıştay) ist oberste Rechtsmittelinstanz und geht bereits auf das Jahr 1868 zurück. Heute besteht die Verwaltungsgerichtsbarkeit aus Verwaltungsgerichten (sing. İdare Mahkemesi) und Gerichten für Steuersachen (sing. Vergi Mahkemesi). Diese Unterscheidung spiegelt sich auch in der inneren Struktur wider (sieben Spruchsenate für Verwaltungsrecht, vier Spruchsenate für Steuerrecht und ein Verwaltungssenat; ein Großer Senat für Verwaltungsstreitigkeiten und ein Großer Senat für Steuersachen). Die Regionalgerichte sind zweite und letzte Instanz gegen Einzelrichterentscheidungen der Verwaltungsgerichte, sie sind Berufungsinstanz im Verwaltungsprozess.
Rz. 14
In der Zivilgerichtsbarkeit ist das "kleinste" Gericht das mit einem Richter bzw. einer Richterin besetzte Friedensgericht (sulh hukuk mahkemesi), das naturgemäß mit einfachen Sachen befasst wird. Dabei handelt es sich zum großen Teil um Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Bis zu einer Reform im Juni 2014 galt Ähnliches für das sulh ceza mahkemesi. Dieses ist allerdings abgeschafft worden. Seine Rechtsprechungszuständigkeiten wurden der Strafkammer (siehe sogleich) übertragen. Die Begleitung und Überwachung in strafrechtlichen Ermittlungsverfahren obliegen jetzt einer Friedensrichterschaft für Strafsachen (sulh hukuk hakimliği), die die während des Ermittlungsverfahrens erforderlichen und seitens der Verfassung den Gerichten vorbehaltenen Anordnungen (z.B. Ausstellung von Haftbefehlen) trifft. Die allgemeinste Zuständigkeit hat die Strafkammer (asliye ceza mahkemesi) bzw. die Zivilkammer (asliye hukuk mahkemesi). Die Kammer für Handelssachen (asliye ticaret mahkemesi) gilt als Fachgericht auf der Stufe der Zivilkammern. Die Zivilkammern entscheiden nur bei Streitwerten unter 500.000 TL mit Einzelrichtern, im Übrigen in der dreiköpfigen Kammer. Die Kammern für Handelskammern tagen in jedem Falle mit drei Richterinnen oder Richtern. Schöffen gibt ...